Leverkusen High-Tech hinter historischen Mauern

Leverkusen · Schwefelsäure wird im Chempark seit 122 Jahren hergestellt. Nur ein wenig jünger ist die hübsche Backstein-Fassade des Produktions-gebäudes. Und die steht unter Denkmalschutz und ist zwischen all den Rohrleitungen und Gerüsten ein echter Hingucker.

Leverkusen: High-Tech hinter historischen Mauern
Foto: Miserius, Uwe (umi)

Potemkinsche Dörfer, also hübsche Kulissen ohne "Inhalt", gaukelten Zarin Katharina der Großen angeblich in frisch eroberten Gebieten schöne Örtchen vor: Eine List, die Feldmarschall Potjomkin der Legende nach ersann, um den wahren Zustand zu verbergen. Ganz zart erinnert tief im Chempark Wiesdorf eine Doppelhaus-Zeile aus dem 1930'er Jahren an solch ein Potemkinsches Dorf: die Schwefelsäureanlage von Lanxess. Denn die eine Hälfte der Häuserzeile ist tatsächlich nur noch Fassade - hinter der anderen aber erstreckt sich die Produktion.

 ! Betriebsmeister Rolf Pitzen am "Bullauge": Dahinter schäumt die frisch hergestellte Schwefelsäure als klare Flüssigkeit.

! Betriebsmeister Rolf Pitzen am "Bullauge": Dahinter schäumt die frisch hergestellte Schwefelsäure als klare Flüssigkeit.

Foto: Miserius, Uwe (umi)

"Die rot verklinkerte Fassade aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts wurde von der Stadt Leverkusen zum Industriedenkmal erklärt", berichtet Betriebsmeister Rolf Pitzen. Die Folge: Beim Umbau der Schwefelsäure-Produktionsanlage im Jahr 2002 musste die Fassade stehen bleiben. "Wir haben dann unsere Sanierung um die Fassade herum geplant." Hinter den historischen Mauern wurde der Betrieb zu der Zeit für 35 Millionen Euro modernisiert, elf Jahre später steckte Lanxess noch mal Geld in die Schwefelsäureproduktion, erweiterte die Kapazität um weitere 20 Prozent. "Damit liegt die jährliche Kapazität, bezogen auf 100-prozentige Schwefelsäure, derzeit bei 220.000 Tonnen", sagt der Betriebsmeister.

 ! In der Messwarte: Von hier aus können die Mitarbeiter jeden Punkt und jeden Produktionsschritt in der Anlage überwachen.

! In der Messwarte: Von hier aus können die Mitarbeiter jeden Punkt und jeden Produktionsschritt in der Anlage überwachen.

Foto: Miserius, Uwe (umi)

Fast alle Chempark-Firmen seien Abnehmer von Schwefelsäure, ergänzt Dr. Udo Kräuter, seit 2013 Leiter des Betriebes. "Vor 122 Jahren wurde Schwefelsäure bei Bayer in großen Mengen für die Herstellung von Farbstoffen benötigt. Seitdem wurde der Stoff immer weiter verfeinert, hat also einen immer höheren Feinheitsgrad bekommen. Ich vergleiche das gerne mit Autos: Früher ein Ford T ist unsere Schwefelsäure heute ein Mercedes für die Formel 1." Exklusiv, das betont Kräuter, sei wohl die hohe Reinheit der bei Lanxess hergestellten Schwefelsäure und ihre Lebensmittelqualität. "Wald- und Wiesenschwefelsäure gibt es überall, diese hohe Reinheit nicht." Kontrolliert wird sie in den eigenen Labors. Die Lebensmittelschwefelsäure - sie wird in einigen Lebensmitteln als Säuerungsmittel oder technisches Hilfsmittel "in Form von harmlosem, ungiftigen Salz" benutzt - wird getrennt von der für andere Branchen produziert. In der Lebensmittelindustrie, auch bei Bio-Produkten, wird sie unter der Bezeichnung E 513 geführt - sie kommt zum Beispiel in der Produktion von Käse zum Einsatz. "In diesem Sinne sind wir ein lebensmittelproduzierender Betrieb und werden von der Stadt überwacht", betont Kräuter. Für die Lebensmittelschwefelsäure gebe es eine eigene Tankcontainerflotte zur Auslieferung. "Das ist schon ziemlich einmalig", merkt Pitzen an.

 ! Stoffkreisläufe: In farblich gekennzeichneten Rohren nimmt die Säure ihren Weg. " Die historische Fassade der Anlage steht unter Denkmalschutz.

! Stoffkreisläufe: In farblich gekennzeichneten Rohren nimmt die Säure ihren Weg. " Die historische Fassade der Anlage steht unter Denkmalschutz.

Foto: Miserius, Uwe (umi)

Das "Reinheitsgebot", das hinter den dicken alten Mauern herrscht, wird eben auch hinter der historischen Fassade deutlich: Wenige Menschen laufen herum. Statt wuseligem Betrieb herrscht Ordnung zwischen den Behältern, Maschinen, Apparaturen, sauber ist es, nur ein klein wenig riecht es nach Industriebetrieb. Orangefarbene Zuleitungen liefern die Schwefelsäure, grüne Betriebswasser. Dicke, silbrige Rohre und große Kessel sind von einer erhöhten Plattform auszumachen. Einer der 93 Mitarbeiter im Schichtbetrieb (gearbeitet wird 365 Tage im Jahr) geht mit Klemmbrett und Stift ausgerüstet an Ventilreihen entlang. "Die Anlage unterliegt ständigen Kontrollen. Schon ein Staubkorn kann die ganze Charge verunreinigen. Die ist dann zum Beispiel für die Computerchipindustrie unbrauchbar", erläutert Kräuter. Aber auch andere Industrien sind von der Qualität des Stoffes abhängig. Schwefelsäure wird unter anderem im Bereich Autobatterien, für die hygienische Aufbereitung von technischen Apparaturen, in der Chemie- und in der Stahlindustrie benötigt.

"Wir haben eine geschlossene Anlage. Alles, was wir produzieren, kommt praktisch nicht mit der Außenwelt in Berührung. Keine Menschen, keine Außenluft", merkt Chemieingenieur Kräuter an. Gerade deswegen passe dieser Betrieb auch sehr gut hinter eine historische Fassade. Pitzen schraubt auf einer höher gelegenen Plattform in der Anlage den Deckel von einem Bullauge. Der Blick durch das Glas zeigt eine heiter vor sich hinsprudelnde klare Flüssigkeit: "Das ist die Schwefelsäure", sagt Pitzen und setzt den Deckel wieder auf.

Die Fachleute führen weiter hinauf in der Anlage. Ganz oben - herrliche Aussicht auf den Rhein - liegt das Dampftrommelhaus. Pitzen und Kräuter erläutern den Ausgangspunkt der Schwefelsäureproduktion: Der Rohstoff Schwefel wird per Tankschiffen aus den Raffinerien flüssig im Chempark angeliefert. Er muss dann verbrannt werden, um das Gas zu erhalten, das mit Sauerstoff zur Schwefelsäure reagiert. Eine ziemlich heiße Sache: Der Verbrennungsprozess läuft bei 700 bis 800 Grad ab. Für Pitzen ist das quasi kalt. "In klassischen Betrieben wird er bei bis zu 1500 Grad verbrannt. Bei unserer Anlage senken wir im Vergleich dazu den Ausstoß von Sickoxiden deutlich." Und: "Der CO2-freie Prozessdampf, der hier bei uns entsteht, geben wir in den Chempark ab", sagt Kräuter. Aus einer Tonne Schwefel entstehen dabei bis zu fünf Tonnen Dampf.

Was hinter der historischen Fassade noch abläuft: Recycling. Gebrauchte Schwefelsäure nimmt Lanxess von Kunden auch zurück, bereitet sie in der Spaltanlage so auf, dass die enthaltenen Rohstoffe wieder verwendet werden können." Ganz so viel Potemkinsches Dorf steckt dann doch nicht hinter der alten Fassade.

Vor 125 Jahren kam Bayer an den Rhein, kaufte von der Ultramarin-Fabrik Dr. Carl Leverkus & Söhne deren Alizarin-Rot-Fabrik und anderes Gelände in Wiesdorf. Zum Jubiläum erzählen wir in loser Reihe Geschichte(n) und Themen rund um das ehemalige Bayer-Werk, den heutigen Chempark, aus diesen 125 Jahren.

(RP)
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