Serie Pape läuft (Folge 16) Schwein gehabt

Beeck · Auf der Suche nach einem stillen Örtchen trifft Christian Pape im Beecker Wald auf einen ausgewachsenen Keiler.

 Mit klopfendem Herzen weicht Christian Pape ganz vorsichtig zurück, das Viech immer im Blick.

Mit klopfendem Herzen weicht Christian Pape ganz vorsichtig zurück, das Viech immer im Blick.

Foto: DIRK JANSEN/MANUS SINISTER

Ich fühle mich gut. Ich bin ausgeschlafen. Das Frühstück habe ich auf der Terrasse in der Morgensonne genossen. Frisch gepresster Orangensaft, heißer Kaffee - was für ein Start in den Tag. Meine Laufsachen sind gewaschen und duften nach Blumenwiese. Noch. Auf geht's! Doch schon kurz nach dem Loslaufen wird mir schlagartig klar: Ich hätte den Kaffee nur aus kleinen Tassen trinken sollen und nicht aus großen Kaffeebechern. Ein Kaffee hätte auch gereicht. Mussten es gleich drei sein? Ich laufe entlang des Grenzlandrings, der Umgehungsstraße, die die Stadt Wegberg umschließt. Ein knapp zehn Kilometer langes Oval, das von 1948 bis 1952 als die schnellste Rennstrecke der Welt galt. Dieser geschichtsträchtigen Straße erweise ich gerade nur wenig Ehre. An schnelles Rennen ist für mich nämlich nicht zu denken. Ich bin abgelenkt vom Druck, der aus den Tiefen meiner Harnblase kommt.

Ich versuche ihn wegzuatmen, doch es gelingt mir nicht. Am besten ignoriere ich den Drang und lenke mich einfach ab. Aber wie, wenn man nur einen endlos scheinenden, geteerten Fahrradweg vor sich sieht? Als Kinder haben wir auf langen Autofahrten immer Nummernschild-Raten gespielt. Auf meiner Laufstrecke kommen mir jedoch nur heimische Autofahrer entgegen, deren Kennzeichen mit denselben Buchstaben beginnen wie mein Nummernschild. Die Ablenkung durch Raten hält sich also in Grenzen. Meine Füße hämmern auf den harten, unnachgiebigen Asphalt. Die Erschütterungen bahnen sich stoßweise über Waden, Oberschenkel und Hüfte ihren Weg und klopfen heimtückisch an der Wand meiner Blase an. Ich habe die ganze Zeit das Bild einer Cola-Dose vor Augen, die man heftig schüttelt, mit einem lauten Zischen öffnet und die Cola-Fontäne schießt heraus. Meine Blase kommt mir gerade vor wie eine geschüttelte Cola-Dose. Kurz vor dem Öffnen.

Ich muss wirklich dringend und fiebere der Erlösung geradezu entgegen. Nervös tastet mein Blick den Wegesrand ab. Links die Landstraße, rechts freies Feld. Kein Getreide, kein Mais. Nur niedrig wachsende Kartoffeln. Die Umstände sind alles andere als günstig, doch die Verlockung ist zu groß. Zielstrebig springe ich ins Kartoffelfeld mit der festen Absicht, mich nicht breitbeinig hinzustellen und wie ein Leuchtturm weit sichtbar über dem Wattenmeer zu thronen. Im Gegenteil, ich versuche mich hinzuhocken, mich möglichst kleinzumachen und wie ein Chamäleon mit der Umgebung zu verschmelzen. Am Hupen der vorbeifahrenden Autos spüre ich jedoch schnell, dass mir das Verschmelzen dank meines neonroten Laufshirts nur suboptimal gelingt. Wahrscheinlich denken die meisten Autofahrer: "Guck mal da, der Leuchtturm ist eingestürzt!" Verdammt, so kann ich einfach nicht müssen! Mit zusammengekniffenen Oberschenkeln stapfe ich wieder aus dem Acker und laufe mühselig weiter. Nur eine Runde, die muss ich schaffen! Ich konzentriere mich. Meine Augen verkrampfen sich zu zwei schmalen Schlitzen. Der Drang lässt mich immer schneller werden. Ich habe Pipi in den Augen. Vielleicht kann ich meine Notdurft ja ausschwitzen. Meine Pulsuhr merkt am eigenwilligen Laufstil, dass irgendetwas nicht stimmt und verkündet dies mit seltsamen Warntönen. Die Melodie erinnert mich an das Kinderlied "Es klappert die Mühle am rauschenden Bach".

Ich hebe meine rechte Hand zum Schwur und schwöre auf der Stelle, dass ich nie mehr genervt bin, wenn wir mit Sack und Pack im Auto in Urlaub fahren, die Autobahn erreichen und Amelie direkt die drei Sätze ruft, die alle Eltern kennen: "Wie weit ist das noch?", "Wann sind wir da?" und: "Papa, ich muss mal!" Auf der Autobahn fährt man dann einfach den nächsten Rastplatz an und geht aufs stille Örtchen. Heute sind aus diesen einfachen Bedürfnis-Verschlägen ja richtige Erlebnistoiletten geworden. Oasen der Entspannung. Da zahlt man 70 Cent, um sich in einer wasserfreien Toilette zu entleeren. Akustisch begleitet von Waldgeräuschen und Wasserplätschern. Also ganz ehrlich, früher brauchte man für das gleiche Erlebnis noch kein Gebäude! Oder diese neuen Unisex-Toiletten, die sowohl von Männlein als auch von Weiblein benutzt werden dürfen. Bei uns hießen Unisex-Toiletten einfach "Gebüsch". Oh, wie sehr sehne ich mich nach einem schlichten Gebüsch, mit vielen Ästen und dichten Blättern. Es drückt und kneift immer mehr. Jetzt scheint auch noch der Orangensaft den Kaffee überholen zu wollen. Doch ich habe noch ein Fünkchen Hoffnung. Gleich beginnt der Beecker Wald. Flehentlich schaue ich zum Himmel. Und renne.

Noch nie habe ich mich über den Anblick der saftig grünen Botanik so gefreut wie jetzt. Waghalsig überquere ich den Grenzlandring und stürze über einen kleinen Trampelpfad ins Unterholz. Immer tiefer. Ich will ungestört sein. Hinter einem Erdhügel soll es endlich passieren. Fiebrig hantiere ich am Knoten meiner Laufhose. Auch das noch: Ein Doppelknoten! Wo kommt der jetzt her? Verflucht, ich bekomme ihn einfach nicht auf. Habe ich schon Halluzinationen? Hat der Erdhügel Beine? Plötzlich ein Grunzen und Schnauben. Was ist das? Zwei Augen schauen mich von unten gefährlich an. Vor mir liegt ein Wildschwein. Groß, braun, zottelig. Hilfe, jetzt nur keine hektischen Bewegungen! Es ist ein Keiler - ein männliches Wildschwein. Seine krummen Eckzähne sind rasierklingenscharf. Gott sei Dank ein Doppelknoten! Nicht auszudenken, wenn ich eine lockere Schleife gebunden hätte.

Mit klopfendem Herzen weiche ich ganz vorsichtig zurück, das Viech immer im Blick. Wenn das Tier aggressiv wird, ziehe ich den Kürzeren. Endlich spüre ich den Waldweg wieder unter meinen Füßen. Nichts wie weg hier, ehe ich auch noch der Bache begegne, die unter Lebenseinsatz ihre Frischlinge verteidigt! Ich spurte so schnell ich kann. Kreuz und querfeldein. Gleichzeitig trainiere ich eine sehr spezielle Muskelgruppe unfreiwillig weiter: Meine Schließ- und Beckenbodenmuskulatur. Ich muss auf jeden Fall meine Trainingsrunde abbrechen, bevor sie mich unschön abbricht. Ich laufe jede Abkürzung, die ich kenne oder gerade erst kennenlerne. Und dann bin ich tatsächlich zu Hause. Geschafft! Panisch fingere ich den Haustürschlüssel aus der Tasche. War unser Türschloss immer schon so klein? Mit puterrotem Gesicht stürme ich in die Küche, schneide mir mit dem Küchenmesser brachial das Hosenband durch und was dann passiert ist, könnte ich stilvoll beschreiben. Aber ich mache es kurz: Es war das schönste Gefühl, das ich je nach dem Laufen hatte!

Und als ich so entkrampft und erleichtert auf unserem stillen Örtchen sitze, kommt mir der weise Spruch von Albert Einstein in den Sinn: "Zeit ist relativ und vergeht mal schneller und mal langsamer." Wie Recht Einstein doch hatte. Entscheidend ist einfach, auf welcher Seite der Toilettentür man sich gerade befindet. Und das nächste Mal gibt es Espresso statt Kaffee. Aus dieser winzigen Tasse.

CHRISTIAN PAPE (42) IST HUMORIST UND HOBBYLÄUFER. AM 2. OKTOBER 2016 GEHT ER MIT RP-REDAKTEUR MICHAEL HECKERS (42) BEIM KÖLN-MARATHON AN DEN START.

(RP)
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