Kreis Heinsberg So läuft die Versorgung mit Jodtabletten

Kreis Heinsberg · Wegen der Nähe zum Atomkraftwerk Tihange bereiten sich die deutschen Kreise und Städte an der belgischen Grenze auf einen Atomunfall vor und bestellen vorsorglich Jodtabletten. So kommen Bürger möglichst schnell an die Tabletten.

Eine radioaktive Wolke könnte je nach Windgeschwindigkeit und Windrichtung innerhalb von wenigen Stunden vom belgischen Atomkraftwerk Tihange in Aachen ankommen. Im schlechtesten anzunehmenden Fall bleiben den Bürgern in der Stadt nur vier Stunden, um sich vorzubereiten. 60 Kilometer Luftlinie liegt der marode Meiler Tihange 2 entfernt. Etwa 120 Kilometer sind es bis zur Grenze des Kreises Heinsberg. Auch die westlichen Gebiete des Kreises Viersen, Düren und Euskirchen liegen im Umkreis von 100 Kilometern des Atomkraftwerks Tihange und wären im atomaren Ernstfall betroffen.

"Mir war gar nicht klar, dass wir in diesen Radius fallen", sagt Sarah Magolei. Sie wohnt in Wegberg (Kreis Heinsberg) und hat zwei Kinder. Sowohl sie als auch ihr Nachwuchs würden bei einem Störfall zu der Bevölkerungsgruppe gehören, die sofort mit Jodtabletten versorgt werden soll. So empfiehlt es die Strahlenschutzkommission, die das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit berät und an deren Empfehlung sich die NRW-Landesregierung orientiert. Wer bekommt die Tabletten im Ernstfall? Im Ernstfall werden Menschen im Alter bis 45 Jahre, Kinder und Jugendliche sowie Schwangere damit versorgt, sofern sie im Umkreis bis zu 100 Kilometern des havarierten Kraftwerks leben. "Menschen jenseits der 45 haben häufiger latente Schilddrüsenerkrankungen, bei denen eine hohe Jodgabe zu schweren Überfunktionen führen könnte", erklärt die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Darum verzichte man jenseits dieser Altersgrenze auf eine Gabe. Wie wirken die Jodtabletten? Tritt bei einem schweren Unfall in einem Atomkraftwerk radioaktives Jod aus, kann dieses über die Haut, die Schleimhäute des Körpers und Atemwege vom Körper aufgenommen und in der Schilddrüse gespeichert werden. Radioaktives Jod kann Schilddrüsenkrebs auslösen. "Durch die Einnahme hochdosierter Jodtabletten wird die Aufnahme des freigesetzten radioaktiven Jods in der Schilddrüse blockiert", erklärt die Gesellschaft für Endokrinologie. Was sind Nebenwirkungen und wovor schützen die Tabletten nicht? Die Jodtabletten können starke Nebenwirkungen haben. Vor allem die Einnahme bei Kindern ist noch nicht genau untersucht. Wird das hoch dosierte Jod zu früh genommen, kann es die Aufnahme von radioaktivem Jod sogar verlängern. "Jod in diesen extrem hohen Dosen kann zudem zu Störungen der Schilddrüsenfunktion zum Beispiel einer Überfunktion der Schilddrüse, Zittern, Herzrasen oder Bluthochdruck bis hin zur Intensivpflichtigkeit führen", heißt es bei der DGE.

Jodtabletten schützen nur vor Schilddrüsenkrebs, nicht aber vor anderen Krankheitsbildern, die nach dem Kontakt mit radioaktiven Stoffen auftreten können, etwa die Strahlenkrankheit oder andere Krebsarten. Daher ist es unerlässlich auch den Rest des Körpers, vor allem Haut und Schleimhäute vor dem Kontakt mit radioaktiven Stoffen zu schützen. Ratsam ist die Anschaffung eines Ganzkörperanzugs, einer Atemschutzmaske mit besonders guten Filtern und einer Schutzbrille für die Augen. Die Stadt Aachen hat eine Broschüre für die Bürger veröffentlicht, in der ein Verhalten im Ernstfall beschrieben ist. Wo bekommen Bürger die Tabletten? In Heinsberg lagern rund 440.000 Jodtabletten im Keller des Kreishauses, in Aachen liegen 300.000 Pillen in der Uniklinik. Auch die Städte Mönchengladbach, die Gemeinde Jüchen und der Kreis Viersen haben vorgesorgt. Die Landesregierung in Düsseldorf hat vorsorglich Jodtabletten beschafft und sie an die betroffenen Kommunen verteilt. Die Städte und Gemeinden beraten mit der Landesregierung darüber, ob sie die Tabletten vorsorglich an die Bürger verteilen oder an mehreren Stellen im Stadt- oder Kreisgebiet lagern dürfen. In Aachen ist eine Lagerung in Feuerwehrwachen, Kindergärten und Schulen im Gespräch, damit im Notfall die Versorgung der Bevölkerung schneller geht. Bedenken gegen diese dezentrale Verteilung bestehen jedoch auch. "Untersuchungen zeigen, dass die Tabletten im Ernstfall in den Haushalten nicht so schnell gefunden werden", erklärt eine Sprecherin des NRW-Innenministeriums. Kritisch sei auch die Frage nach der Überprüfung der Verfallsdaten oder die richtige Einnahme. Wie erfährt man, ob es einen Störfall gibt und ob man die Tabletten nehmen muss? "Im Notfall greifen die örtlichen Katastrophenpläne, die die Verständigung der Bevölkerung zum Beispiel über Lautsprecherdurchsagen der Feuerwehr, die Information über die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender oder die Warn-App NINA vorsieht", sagt Ulrich Hollwitz, Sprecher des Kreises Heinsberg. Im Falle eines atomaren Unfalls ist es aber möglich, dass das Strom- und das Funknetz ausfallen. Dann helfen Mobiltelefon und Internet nicht mehr weiter. "Wir haben zwar eine Darksite, die hinter unserem eigentlichen Webauftritt liegt und im Gefahrenfall diese Seite ersetzen würde. Aber auch das Internet wird in einer solchen Situation überlastet sein", erklärt Hollwitz.

Deswegen warnen viele Kommunen ihre Bürger über Sirenenalarm und Lautsprecherdurchsagen. Derzeit sind etwa zwei Drittel aller Kommunen in NRW mit neuen Sirenenwarnsystemen ausgestattet, heißt es aus dem Innenministerium. Wo das der Fall ist, sind oftmals die Sirenensignale nicht mehr bekannt. "Ein über eine Minute hinweg an- und abschwellender Heulton, der älteren Menschen als Flieger- oder Bombenalarm noch bekannt ist, warnt vor Gefahren und weist darauf hin, das Radio einzuschalten", erläutert der Kreis-Sprecher.

(wat)
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