Krefeld Will Cassel: Der Herr der Zwerge wird 90

Krefeld · Die Zwerge sind sein Markenzeichen, die Reduktion ist sein künstlerisches Credo: Der Künstler Will Cassel wird heute 90. Noch immer inszeniert er auf der Leinwand Momente aus dem "Welttheater". Aber sein Spätwerk zeigt auch eine neue Ruhe.

 Seit 62 Jahren sind Sigrun und Will Cassel verheiratet - und auch beruflich ein eingespieltes Team: Sie koordiniert Termine und ist seine erste Kritikerin.

Seit 62 Jahren sind Sigrun und Will Cassel verheiratet - und auch beruflich ein eingespieltes Team: Sie koordiniert Termine und ist seine erste Kritikerin.

Foto: T. Lammertz

Der große Rausch ist vorbei. Für das fieberhafte Arbeiten an den großen Formaten des Welttheaters, die Will Cassel mit starken Farben und ausholenden Pinselstrichen auf die Leinwand bringt, reicht die Kraft nur an guten Tagen. Zwei bis drei neue Enkaustiken präsentiert er noch in seinen drei Hausausstellungen pro Jahr. Das Malen hat sich verändert, nicht der Künstler. "Die Ohren werden schlechter, die Augen werden schlechter, die Anstrengungen größer. Aber ich muss malen", sagt er. Heute wird er 90 - und in seiner laufenden Ausstellung zeigt er, dass er sich vom Alter allenfalls bremsen lässt, aber keineswegs stoppen. Er nutzt alles, was ihm die Arbeit erleichtert: gute Lampen und Vergrößerungsgläser. Wenn er den gut gemeinten Rat hört: "Will, du musst mal aufhören", winkt er ab. "Das entspricht nicht meinem Naturell."

Auch mit 90 fährt er noch jeden Vormittag auf einen Kaffee in die Stadt. Nicht mehr mit dem Fahrrad, sondern mit dem Bus. Die Strecke von seinem Buschhüterhaus in Traar bis in die City ist für ihn lang geworden. "Aber ich gehe täglich meine sechs Kilometer zu Fuß", sagt er. Solche Rituale sind ihm wichtig. Nach der Mittagsruhe sind die produktiven Stunden im Atelier allerdings kein Pflichtprogramm mehr. "Das hat sich verändert. Früher hatte ich Disziplin, heute habe ich Lust."

Wer die neuen Arbeiten betrachtet, die Cassel noch bis zum Sonntag in seinem Museumshaus zeigt, sieht weitere Veränderungen. Die Bilder haben eine neue Weichheit im Strich, eine Sorgfalt für Details - sie wirken entschleunigt. Zeichnungen gewinnen an Bedeutung. Für Cassel eine logische Entwicklung: "Von der Zeichnung bin ich gekommen", sagt er. Mit Buntstiften hat er als oft kränkelndes Kind die Zeit überbrückt, wenn er das Bett hüten musste. Und Zeichnungen zeigte er auch 1960 bei seiner ersten - von insgesamt drei - Einzelausstellung im Kaiser-Wilhelm-Museum. Stark reduzierte Linien, die ganz gegen die Sehgewohnheiten der Pop-Art-verliebten Kunstszene jener Jahre gerichtet waren. "Ein Künstler trifft bei jedem Bild eine Entscheidung, in welche Richtung er gehen, was er aussagen will. Ich bin nie einer Mode gefolgt. Das ist meine Freiheit", betont Cassel.

Über Jahrzehnte war er auf der Suche nach der ultimativen Reduktion: Sein Welttheater ist das Herunterbrechen gesellschaftlicher und naturwissenschaftlicher Themen auf die kleinste Bühne, wo der Mensch zum Zwerg wird. Auch der Zwerg wurde weiter reduziert - auf den Torso, auf die Zipfelmütze und letztlich auf den Kreis, in den für Cassel schon immer alles mündete und in dem alles seinen Anfang nimmt: die unendliche Wiederholung von Werden, Sein und Vergehen. "Wir sind Wolken, bilden uns, lösen uns auf" hat er in ein Enkaustikbild geschrieben.

Die Endlichkeit des Lebens blendet Cassel nicht aus. Geografisch ist die Welt des Künstlers, der früher in New York ausstellte, in Barcelona mit internationalen Kunstpreis Prix Joan Miro gewann (1977) und von 1972 bis 1982 dreimal bei der Documenta in Kassel beteiligt war, kleiner geworden. Wichtigste Inspiration ist der große urige Garten rund ums Haus. In zarten Zeichnungen hat er Pflanzen und Stauden auf die Leinwand gebracht. Dabei hat er für sich wieder eine neue Technik entdeckt: Er hat mit Acrylfarbe plastische Akzente gesetzt, wo er früher Farbexzesse ausgelebt hätte. Das gibt den Bildern eine zarte Note. Hier wird Herzenswärme sichtbar. Das Wort Altersmilde hört Cassel nicht gern. "Das Leben ist Veränderung mit dem Lauf der Zeit. Es bringt nichts, in die Vergangenheit zu gucken. Man muss sich immer fragen: Wo stehen wir heute." Deshalb hat er sich nur einen kurzen Moment der Melancholie gestattet, als er kürzlich seine gesammelten Schriften und Tagebücher, Entwürfe und Briefe an das Stadtarchiv übergeben hat. Beim Briefwechsel mit Museumsdirektor Paul Wember sei ihm das schwer gefallen. "Darin lässt sich ablesen, wie schwer es ist, ein Werk oder eine Sammlung aufzubauen. Aber davon können nun die Jungen profitieren."

Die Ausstellung im Cassel-Museum, Kuhdyk 20, ist morgen, 16 bis 18 Uhr, und sonntag, 11.30 bis 14 Uhr, geöffnet

(RP)
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