Krefeld Wie ein Junge das Schicksaljahr 1923 erlebte

Krefeld · Als Erwachsener schrieb Paul Sürder seine "Erinnerungen an die Jugendzeit" auf, die er nach dem Ersten Weltkrieg an der Breitestraße verbrachte. Das wiederaufgetauchte Skript ist ein wichtiges Dokument zur Stadtgeschichte.

 Das Krefelder Rathaus nach der Übergabe an die Separatisten - die Fenster sind verbarrikadiert oder zerstört.

Das Krefelder Rathaus nach der Übergabe an die Separatisten - die Fenster sind verbarrikadiert oder zerstört.

Foto: Stadtarchiv

Wie sollte es weitergehen mit dem Rheinland? Noch vor der Niederlage des deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg kursierten wilde Gerüchte. Die einen sagten, das Rheinland würde französisch. Andere wiederum behaupteten, das Rheinland müsse sich ganz von Preußen lösen und als ein Pufferstaat zwischen Deutschland und Frankreich agieren. Aus der Sicht eines Krefelder Jungen sieht das Kriegsende im Jahr 1918 so aus:

 Der Krefelder Polizist Lenssen kam beim Angriff um.

Der Krefelder Polizist Lenssen kam beim Angriff um.

Foto: Stadt

"Auf der Breitestraße hieß es auf einmal, Soldaten sind auf dem Westwall in einem langen Zug. Wir rannten von der Breitestraße alle hin. Es war eine Kolonne von Pferdewagen mit allerlei Material beladen. Uns zog es zu einem Wagen hin, der qualmte und dampfte. Ein netter älterer deutscher Soldat kochte da in der Gulaschkanone die Erbsensuppe für die Soldaten. Ob etwas übrig bleiben würde? Natürlich, holt nur eure Teller. Wir rannten heim, Teller und Löffel holen. So eine Erbsensuppe hatten wir in unserem Leben noch nie gegessen", schreibt Sürder. "Unsere Frage: Wie lange bleibt ihr noch? Die Antwort: Wir müssen noch heute weg, denn morgen kommen die Belgier, traf uns wie ein Keulenschlag. Die können uns doch nicht den Belgiern ausliefern!"

 Polizist Schneider starb ebenfalls - nach beiden sind Straßen benannt.

Polizist Schneider starb ebenfalls - nach beiden sind Straßen benannt.

Foto: Stadt

Im letzten Kriegsjahr hatte der Hunger in Deutschland Einzug gehalten, bedingt durch die englische Seeblockade. Der Steckrübenwinter genannte Hungerwinter war überstanden, doch zu essen gab es nur wenig.

 Das Foto zeigt das Dienstzimmer des Krefelder Oberbürgermeisters Johann Johansen mit einer großen Blutlache, die von einer blauen Polizeimütze und einer zu Boden gefallenen Pistole gesäumt wird.

Das Foto zeigt das Dienstzimmer des Krefelder Oberbürgermeisters Johann Johansen mit einer großen Blutlache, die von einer blauen Polizeimütze und einer zu Boden gefallenen Pistole gesäumt wird.

Foto: Stadtarchiv

"Am anderen Morgen waren die deutschen Soldaten fort. Stille. Am Nachmittag waren wirklich die Belgier da. Misstrauisch umschlichen wir die Kolonnen. Wir hätten uns nicht gewundert, wenn einer eine Ohrfeige bekommen hätte. Aber es geschah nichts. Auch hier dampfte die Gulaschkanone. Aber niemand ließ sich vom Feind ein Essen geben. Bis einer uns ein Weißbrot anbot. Wann hatten wir Kinder ein Weißbrot gesehen? Zögernd nahmen wir an. Jeder bekam ein Stück und ging damit nach Hause. Skeptisch besah es sich die Mutter und fragte, woher das sei? Ob es vergiftet war. Zögernd wurde davon gegessen. Es war wie Kuchen. Die Belgier zogen in das Haus Westwall, Ecke Südstraße ein, ein vierstöckiges Gebäude. Einige Tage später hatte einer ein ganzes weißes Brot bekommen. Wir von der Breitestraße zogen hin. Aber es waren schon mehrere Jungen da, nur einzelne Mädchen. Ab und zu kam ein Belgier an die Tür und gab einem Jungen oder einem Mädchen ein Brot, einmal auch eine Konservenbüchse. Wir gingen ohne Beute heim. Aber am anderen Tag waren wir ganz früh da. Wir aus unserer Familie mit drei Jungen. Die Belgier lagen im Fenster, unten eine Menge Kinder. Dann warfen mit sichtlicher Freude die Belgier Brot und Konserven aus den Fenstern unten auf die Straße. Wir schlugen und rauften uns um die auf die Straße geworfenen Lebensmittel. Eine Schande? Für uns war es ein Sport. An einem Tag kamen wir drei Jungen mit einem ganzen Weißbrot und zwei Konservenbüchsen mit Fleisch oder Wurst heim. Ein Freudenfest!"

Es dauerte lange, bis sich zwischen den belgischen Besatzern und der Krefelder Bevölkerung so etwas wie eine friedliche Koexistenz herausbildete. Zu tief waren die Wunden, die die Hasspropaganda der Kriegsgegner und das Gemetzel des Weltkrieges gerissen hatten. Die Belgier verhielten sich auch scheinbar neutral, als 1923 bewaffnete Separatisten, im Stillen unterstützt von Frankreich, in vielen Städten des Rheinlandes die Rathäuser stürmten, um eine Rheinische Republik auszurufen, die als Puffer zwischen Frankreich und Deutschland dienen sollte, in Wirklichkeit aber Frankreichs Einflusssphäre bis an den Rhein nach Osten verlegt hätte. Paul Sürder erlebt die Ereignisse in Krefeld so:

"Aber noch einmal gab es Krieg auf der Breitestraße. Ich ging in die Oberrealschule auf dem Westwall. Eines Morgens erzählten eine Reihe Schüler, in der Stadt sei Unruhe und es würde geschossen. In der 2. Stunde wurde bekanntgegeben, dass die Separatisten das Rathaus belagerten. Alle sollten nach Hause gehen und die Rathausnähe weit umgehen. Als ich auf die Breitestraße kam, hörte ich ab und zu ein Zischen. Meine Mutter sagte: Das sind Kugeln vom Rathaus. Der Buchbinder Brüster von uns gegenüber hatte in der Haustür einen Streifschuss am Arm mitbekommen. Die Breitestraße war menschenleer. Die Rollläden waren wieder herunter und die Haustür fest verschlossen. Am anderen Tag kam vom Südwall ein Krankenwagen über die Breitestraße und fuhr in Richtung Rathaus. Nach einiger Zeit kam er wieder zurück. Später erfuhren wir, dass trotz fester Zusage, dem verwundeten Polizisten Schneider zum Krankenhaus freies Geleit zu geben, Separatisten den Krankenwagen an der Marktstraße gestoppt und den verwundeten Schneider erschossen hatten, im Krankenwagen.

Wenige Tage später schellte es abends. Das Rathaus war in Händen der Separatisten, es wurde nicht mehr geschossen. Ein paar Männer mit Gewehren und Binden standen an der Tür (des Schuhgeschäfts von Paul Sürders Vater) und verlangten Schuhe gegen Empfangsschein. Mein Vater wich der Gewalt. Er gab ihnen die Schuhe. Am andern Tag schickte mich mein Vater zum Rathaus, das Geld holen. Vor dem Rathaus waren Gräben ausgeworfen, worüber ich klettern musste. Überall, auch im Rathaus, gingen Männer mit Gewehren und grünen Binden. In einem Büro bekam ich das Geld, ich glaube, es war nur ein Teil. Plötzlich rannten alle Leute, Männer mit Gewehren besetzten die Gräben. Ich rannte nach Hause. In den nächsten Tagen holten noch einige Separatisten Schuhe bei uns. Das Geld hat mein Vater später von der deutschen Behörde bekommen, als die Separatisten längst Krefeld verlassen hatten."

Im Dezember 1918, kurz nach dem Waffenstillstand, hatte sich der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, der der katholischen Zentrumspartei angehörte, dafür stark gemacht, dass sich die Rheinprovinz vom evangelischen Preußen loslösen und einen autonomen Rheinstaat innerhalb des Reichsgebiets bilden sollte. Der Plan scheitert, wird aber von separatistischen Splittergruppen weiterverfolgt. Als diese im Juni 1919 in Wiesbaden erstmals eine Rheinische Republik ausrufen, verhindert Adenauer nach Rücksprache mit dem britischen Generalgouverneur diesen Putsch gegen das Deutsche Reich. Ohne die rheinische Zentrale Köln kann der Separatistenplan nicht aufgehen.

Karl Rembert, Lehrer an der Oberrealschule und bekannter Heimatforscher, schätzt die Zahl der Krefelder Separatisten auf etwa 1500. Der Spuk war bald vorbei: Die Rheinische Republik. Am 8. November 1923 zogen die Separatisten ab und wurden von den Belgiern entwaffnet.

(oes)
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