Krefeld Kunst-Professorin schreibt Psychokrimi

Krefeld · Brigitte Tietzel, frühere Leiterin des Deutschen Textilmuseums, hat einen Krimi geschrieben. Nicht die Suche nach dem Mörder steht dabei im Mittelpunkt, sondern die Psyche der Opfer und ihrer Angehörigen.

 Brigitte Tietzel ist Kunsthistorikerin. Sie leitete das Deutsche Textilmuseum in Linn und hat zahlreiche Fachpublikationen verfasst. "Die verlorenen Seelen" ist ihr dritter Krimi, der erste, den sie im Ruhestand geschrieben hat.

Brigitte Tietzel ist Kunsthistorikerin. Sie leitete das Deutsche Textilmuseum in Linn und hat zahlreiche Fachpublikationen verfasst. "Die verlorenen Seelen" ist ihr dritter Krimi, der erste, den sie im Ruhestand geschrieben hat.

Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

Bei Krimis muss man immer mit dem Schlimmsten rechen. Erst recht, wenn sie so unheilverheißend beginnen: "Als ich sie das letzte Mal sah, ging sie gerade durch den kleinen Vorgarten des Mietshauses, in dem ich wohnte." Das schmeckt nach einem Abschied der schmerzvollen Art. Und wirklich - so viel sei verraten - kommt die junge Frau gewaltsam ums Leben. Doch Autorin Brigitte Tietzel lässt sie nicht nur ein einziges Mal sterben. Lange bevor die Frau ermordet wird, verliert sie ihr Leben: "Die verlorenen Seelen" ist ein Psycho-Krimi aus anderer Perspektive. Tietzel interessiert es nicht so sehr, was einen Menschen zum Mörder macht, sondern vielmehr, wie Menschen mit Leid umgehen, mit Grausamkeiten, die der Verstand nicht verarbeiten kann - wie den Missbrauch im Kindesalter.

Als Wissenschaftlerin geht Tietzel von Fakten aus, hat aber im Berufsleben detektivisches Gespür benötigt. Lange Jahre war die Professorin Leiterin des Deutschen Textilmuseums. Textile Fragmente mit oft unbekannter Herkunft in einen historischen Zusammenhang zu bringen, ist Puzzlearbeit. Den Anstoß für den ersten Krimi, den sie im Ruhestand geschrieben hat, bekam sie in einer Wissenschaftszeitschrift. Sie stieß dort auf den Fall eines Mannes, der sein Gedächtnis verloren hatte - und damit seine Vergangenheit und sein komplettes Leben. Manche Situationen lösten plötzlich bruchstückhafte Erinnerungen aus. Doch solche "Trigger" lassen sich nicht steuern. "Diese Menschen verlieren sich und sie finden sich nicht wieder", sagt Tietzel. Sie hat sich mit dem Thema intensiv beschäftigt: "Um 1900 nannte man Menschen, die ganz plötzlich die Erinnerung an ihre eigene Biografie verloren und dabei weit von zu Hause fortgingen, "wanderlustig". Das Krankheitsbild wird auch heute noch nach dem französischen Wort für Flucht - fugue - benannt. Die Amnesie bezieht sich dabei ausschließlich auf die eigene Biografie. Das übrige, gelernte und erworbene Wissen bleibt erhalten."

Die zentrale Figur in den "Verlorenen Seelen" ist eine junge Frau, die eines Morgens auf der Kölner Domplatte zu sich kommt. Sie weiß nicht, wie sie dort landete, weiß nicht, dass sie Rebecca Schwarz heißt, in Frankfurt wohnt und in Krefeld aufgewachsen ist. Ihr Glück: Sie trifft die flippige Rita, die auf der Straße lebt und sich der völlig aus der Bahn Geworfenen annimmt. Sie nennt sie kurzerhand Elsie, besorgt ihr eine Schlafgelegenheit und wird zur verlässlichen Detektivin von Rebeccas ausgeblendetem Leben.

Wie das Mädchen von der Straße an seiner Aufgabe wächst, durch die Verantwortung reift und im Leben Fuß fasst - und wie gleichzeitig die Frau ohne Gedächtnis hadert, ob sie die Nebel wirklich vertreiben will, ist hochspannend. Wenn das Gedächtnis streikt, ist das eine Schutzfunktion des Körpers - wer weiß, welche Abgründe erhellt werden? Ein traumatisches Erlebnis oder eine verdrängte Schuld - wird man das aushalten? Diese Bedrohung lässt Tietzel den Leser mitspüren. "Das Schicksal von Rebecca/Elsie ist erfunden, aber wahrscheinlich."

Ein Krimi schließt das gute Ende aus. So führt bald eine Spur in das Cäcilienheim an der Moerser Landstraße in Krefeld, wo Rebecca als Schülerin lebte - und wie viele andere Heimkinder von Mitgliedern eines exklusiven Clubs der gehobenen Gesellschaft missbraucht wurde. "Das ist fiktiv, ein solches Heim hat es an der Moerser Landstraße auch nie gegeben. Aber von der Lage hätte es gut gepasst", sagt Tietzel. Von Verbrechen und Mord schreibt sie. "Das gehört zum Krimi, aber spritzendes Blut ist nicht mein Fach. Mich interessieren die Menschen, die anderen auf perfide Weise etwas antun, und die Opfer, die das ein Leben lang nicht mehr loslässt." Deshalb muss der Buchtitel auch im Plural stehen: Hier gibt es mehr als eine verlorene Seele. Und für mehr als eine Figur gibt es keine Zukunft. Das erzählt Brigitte Tietzel auf knapp 290 Seiten mit einem geschlossenen Spannungsbogen und aus unterschiedlichen Perspektiven. Und als Leser darf man sich dabei ertappen, dass man sich gar nicht die Frage stellt, wer hat es getan, sondern: Wie würde man selbst in dieser Situation handeln?

(RP)
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