Krefeld Düsterer Krimi über die Seelenqual eines Mörders

Krefeld · Ein Student begeht das perfekte Verbrechen. Doch damit beginnt die Tragödie erst: Matthias Gehrt zeigt Dostojewskis "Schuld und Sühne" als packendes Seelendrama. Die Premiere war ein großer Erfolg - vor allem auch wegen des Hauptdarstellers Philipp Sommer.

 Eine der bewegenden Szenen: Der schuldgetriebene Raskolnikow (Philipp Sommer) sucht Halt bei Sonja (Anna Pircher).

Eine der bewegenden Szenen: Der schuldgetriebene Raskolnikow (Philipp Sommer) sucht Halt bei Sonja (Anna Pircher).

Foto: Matthias Stutte

Das Gewissen ist eine schwarze Wand: Elf Meter breit, fünf Meter hoch. Fast unbemerkt rückt sie näher, wird zur immer größeren Bedrohung. Mit jedem Zentimeter, den sie auf den Bühnenraum zukommt, verringert sich die Spielfläche, auf der Raskolnikow agieren kann. Mit der Enge wächst seine Panik. Es ist zunächst die Angst, als Mörder überführt zu werden, später der Horror, mit der Schuld weiterleben zu müssen. Am Ende hat die Wand sein Zimmer, das Fjodor Dostojewski in seinem Roman "Schuld und Sühne" als Schrankzimmer bezeichnet, auf genau dieses Maß zusammengeschoben - mitsamt dem wenigen Mobiliar. Das ist genau der Moment, in dem der Regieeinfall von Schauspieldirektor Matthias Gehrt und seinem Team aufgeht. Das Publikum im Saal erlebt, was Raskolnikow fühlt. Die Inszenierung versetzt die Zuschauer in den Kopf des verarmten Studenten, der eine alte Pfandleiherin und ihre Schwester brutal mit der Axt erschlagen hat. Die Idee greift am Ende, zuvor ist das Perspektivspiel surreal, oft verwirrend, anstrengend. Es wirft Fragen auf, die sich vom Schluss her klären: Warum steht der Staatsanwalt auf einem Pult? (Weil er übergroß eine Bedrohung für Raskolnikow ist.) Warum hecheln Männer durch die Szene, die für die zentrale Handlung überflüssig sind? (Weil sich Raskolnikow von ihnen gejagt fühlt.) Der polnische Schriftsteller und Regisseur Andrzej Wajda hat die Vorlage für diese Bühnenfassung geliefert, die den 800-Seiten-Roman mit einer halben Hundertschaft an Personal im Wesentlichen auf die drei Hauptfiguren konzentriert: Raskolnikow, den Mörder, Profirij, den ermittelnden Staatsanwalt, und Sonja, die tiefreligiöse Prostituierte, bei der Raskolnikow Halt sucht. An ihnen zerreibt er die "Laus-Mensch"-Theorie, mit der Dostojewski 1866 die Vorlage für Nietzsches "Übermensch" lieferte. Raskolnikow glaubt, dass außergewöhnliche Menschen das Recht haben, gegen das Gesetz zu verstoßen. Sie haben sogar die Pflicht zu töten, wenn jemand ihren fortschrittlichen Ideen im Wege ist. Raskolnikow zerbricht, als er merkt, dass er sich geirrt hat: "Hätte ich aus Hunger gemordet, so wäre ich glücklich", sagt er. Er aber habe "Napoleon sein wollen".

Die Figuren sind hervorragend besetzt: Philipp Sommer zeigt den Getriebenen mit allen Zwischentönen des Wahnsinns. Er schreit bis zur Hysterie, ringt nach Luft, weil die Schuld ihm die Kehle zuschnürt, und wirkt zunehmend zerbrechlicher, wenn er sein ideologisches Kartenhaus zerfallen sieht. Nicht die Angst vor der Strafe versetzt ihn in Furcht, sondern eine Tat, an deren Motiv er nicht mehr glaubt: Ein fulminantes Debüt für Sommer, der das Psychogramm einer kranken Seele sensibel abbildet - und ein ausgesprochen sorgfältiger Sprecher ist. Michael Ophelders spielt den Profirij mit dem intellektuellen Selbstbewusstsein von Hercule Poirot und der scheinbaren Harmlosigkeit von Columbo. Clever legt er die Fäden aus, in denen sich Raskolnikow verheddert und selbst alle Beweise liefert für ein Verbrechen, für das es keinerlei Indizien gab. Das Katz-und-Maus-Spiel mit Sommer hat echten Thrill. Die Musik von Jörg Ostermayer, die oft den Pulsschlag des gejagten Mörders zählt, unterstreicht das. Anna Pircher macht in wenigen Gesten die Zerrissenheit einer jungen Frau deutlich, die innig auf Gott vertraut und ihre Familie mühsam über Wasser hält: Lasziv bietet sie ihren Körper an, und reinigt sich dann manisch in einer alten Zinkwanne. Zu den Elenden, für die Petra Wilke die Kostüme der Erbärmlichkeit und Verwahrlosung entworfen hat, gehören auch Joachim Henschke, Jonathan Hutter, Adrian Linke und Ronny Tomiska sowie Michael Grosse, dessen Rolle Bruno Winzen ab der dritten Vorstellung übernimmt.

Gabriele Trinczeks Bühne erzählt nicht nur mit der Wand eine Tragödie. Die Kälte des kargen, düsteren Raums kriecht förmlich über die Rampe ins Parkett. Ein altes Sofa, ein klappriger Ofen, eine Kerze und ein Waschzuber reichen, um die Behausungen von Raskolnikow und Sonja zu möblieren. Wie raffiniert sich die Tat auf der schwarzen Wand der Schuld abzeichnet, wird hier nicht verraten. Auch das löst sich am Ende auf. Das Publikum applaudierte lange.

Weitere Vorstellungen: 4., 22. Dezember, 8., 24. Februar, 25. März und 18. April, Kartentelefon 02151 805125.

(RP)
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