Krefeld Brasilianisches Theater: Das Leben ist Samba

Krefeld · Laut, bunt und rhythmisch ist "Cavalo de Santo - Das Pferd des Heiligen". Das Zwei-Personen-Stück schillert, aber verpufft schnell.

 Graca (Nele Jung) und Inacio (Adrian Linke) in ihrer beengten, kleinen Wohnung. Bühnenbildnerin Lydia Merkel hat sie in eine tropische Welt verwandelt, die auch die Zuschauer als schwülwarm und zugewuchert erleben.

Graca (Nele Jung) und Inacio (Adrian Linke) in ihrer beengten, kleinen Wohnung. Bühnenbildnerin Lydia Merkel hat sie in eine tropische Welt verwandelt, die auch die Zuschauer als schwülwarm und zugewuchert erleben.

Foto: Matthias Stutte

Am Ende ist es wie am Tag nach dem Karneval: Es war ein rauschendes Fest voller Farbe und Musik, die vielen Bilder haben die Sinne geflutet, doch sie verflüchtigen sich rasch. Erinnerungen an Szenen bleiben zurück, die man aufgesogen hat, aber das Weltbild nicht verändern. Mit der Uraufführung von "Cavalo de Santo - Das Pferd des Heiligen" bringt der Brasilianer Jessé Oliveira einen bunten Bilderbogen aus seiner Heimat auf die Bühne der Fabrik Heeder, der alles bietet, was ein Tourismusführer versprechen kann: Capoeira, Leidenschaft, Temperament - und jede Menge Samba. Und natürlich kommt auch alles auf die Bühne, was in der Klischeebox "Brasilien" steckt: Gottesglaube und Bigotterie, Staatsmacht und Korruption, rituelle Ekstase und Elendsviertel, Gauner und Gewalt.

Es war der zweite Abend mit "Außereuropäischem Theater" innerhalb von drei Wochen. Und weil die Krefeld-Premiere von "Cavalo de Santo", die eigentlich für die vergangene Spielzeit vorgesehen gewesen war, wegen der Elternzeit von Nele Jung verschoben wurde, ist es Zufall, dass der brasilianische Beitrag so nah an die Inszenierung des syrischen Teams von "Deine Liebe ist Feuer" rückt. Durch die zeitliche Nähe besteht die Versuchung des Vergleichs. Denn beide Studio-Stücke spielen in einem Raum, aus dem die Figuren nicht entkommen können. In Syrien liegt es am tobenden Bürgerkrieg, der zwei Frauen und einen Mann zwingt, in der MiniWohnung ihre Konflikte auszutragen, denen sie sich entziehen, indem sie die Handlung stoppen und den Autor fragen. Das ist bewegend.

Regisseur Jessé Oliveira und Autorin Viviane Juguero sperren ein Paar, Inacio (Adrian Linke) und Graca (Nele Jung) in ein überfülltes, winziges Stadtapartment, das keine Tür hat. Die Welt kommt durch einen Fernseher mit Zimmerantenne, durch die laute Musik der Nachbarn oder durch ein großes Fenster zu ihnen. Die tropische Pflanzenwelt von draußen wuchert drinnen - und bis fast in die Zuschauerreihen weiter.

Hier nehmen wir teil am Alltag des Pärchens, das sparen muss, Fußball schaut mit Bier und Popcorn - und von allem pflichtschuldigst auf dem Hausaltar den Heiligen und Göttern opfert. Von draußen klingt mal ein Requiem, das europäisch vertraut klingt, aber aus der sakralen brasilianischen Musiktradition kommt, ein andermal peitscht der Rhythmus einer Capoeira. Und immer wieder übernimmt die Samba - aus dem Fernseher, in den Bewegungen der Schauspieler, aus der Tiefe der kleinen Bühne.

Inacio und Graca sind Chamäleons, sie verwandeln sich. lassen sich von anderen Figuren vereinnahmen. Plötzlich taucht der französische Tourist mit der "Alles ist erlaubt - ich zahle"-Mentalität auf, die eben noch verführerisch die Hüften schwingende Samba-Königin, schreit ihr Elend von Prostitution und Abtreibung heraus, der Durchschnitts-Ehemann prügelt seine Frau, die Polizei lässt sich schmieren und guckt über ein Gewaltverbrechen hinweg. Tragödie und Fatalismus fließen in einander, nichts ist greifbar, alles flirrt wie eine Fiesta. Bevor ein Konflikt ausgestanden ist, kommt von irgendwoher eine Samba-Melodie. Eben speit ein verzweifelter Mann noch: "Vergewaltigtes Kind, vergewaltigte Familie, vergewaltigte Nation" in den Saal - einen Moment später ist es wieder das Land des Karnevals.

Mit den Gestalten, die sich des Pärchens bemächtigen, will Oliveira den Synkretismus seiner Heimat zeigen, in der Gott und Götter, Teufel und Dämonen das Leben bestimmen. Er erzählt keine Geschichte, sondern liefert Skizzen, einen Bilderbogen von Klischees, die er niemals widerlegt, Metaphern, die er nicht interpretiert wissen will. Das ist befremdlich für die europäische Theatertradition, die nach Erkenntnissen sucht. Trotz des großartigen Zusammenspiels von Jung und Linke, die sich in Ekstase, in Verzweiflung und auf Normaltemperatur bringen, bleibt am Ende das Gefühl: Etwas fehlt.

(RP)
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