Krefeld Als Junge mit Familie aus Polen geflohen

Krefeld · Mitten in den Turbulenzen um die Solidarnosc ist die Familie Kocjan aus Polen nach Deutschland geflohen. Sie hat in Krefeld eine neue Heimat gefunden - und schlesische sowie polnische Spezialitäten auch in Krefeld heimisch gemacht.

 Michael Kocjan kam als Zehnjähriger nach Deutschland: Sein Vater wollte nichts mehr mit dem kommunistischen Regime in Polen zu tun haben. Heute dreht sich das berufliche Leben der Familie um schlesische Köstlichkeiten - für viele Vertriebene eine schöne Erinnerung an ihre alte Heimat.

Michael Kocjan kam als Zehnjähriger nach Deutschland: Sein Vater wollte nichts mehr mit dem kommunistischen Regime in Polen zu tun haben. Heute dreht sich das berufliche Leben der Familie um schlesische Köstlichkeiten - für viele Vertriebene eine schöne Erinnerung an ihre alte Heimat.

Foto: Lammertz

Es ist nun schon über 30 Jahre her, dass der heutige Inhaber der Fleischerei Kocjan an der Marktstraße, Michael Kocjan, nach Deutschland kam. Aber wenn er darüber spricht, ist alles wieder ganz nah: als 10-jähriger Bub alleine im überfüllten Zug von Polen nach Dortmund, die Angst vor der allgegenwärtigen Polizei und dem Militär und die Ungewissheit, wo und wie er seine Eltern wiedersehen wird.

Aber der Reihe nach: Es waren unruhige Zeiten in Polen, als sich 1981 Herbert Kocjan, der Vater von Michael Kocjan, spontan entschloss, von einem Familienbesuch in Deutschland nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Er betrieb in der Nähe von Loslau (eine oberschlesische Stadt im südlichen Polen) ein florierendes Restaurant. Florierend dank guter Beziehungen, trotz des ausgerufenen Kriegsrechts und den damit einhergehenden Beschränkungen. Diese guten Beziehungen erregten die Aufmerksamkeit und ausdrückliche Missbilligung der Miliz. Herbert Kocjan wurde sogar kurzzeitig verhaftet.

Etwa einen Monat nach der Haftentlassung fuhr er zum Familienbesuch nach Voerde in der Nähe von Dinslaken und entschloss dort spontan: "Ich kehre nicht mehr zurück." Rückblickend erinnert sich sein Sohn Michael: "Er wollte nichts mehr mit diesem Regime zu tun haben." Die Ehefrau von Herbert Kocjan, Inga, stellte daraufhin einen Ausreiseantrag auf "Urlaub in Deutschland", der ihr kurz darauf gewährt wurde. Aus Angst, doch noch aufgehalten zu werden, packte sie innerhalb weniger Stunden das Auto und fuhr los. Die beiden Söhne blieben bei der Großmutter.

Im Lager Friedland mit den nötigen Papieren versorgt, bezogen Herbert und Inga Kocjan eine Wohnung in Dinslaken und arbeiteten etwa ein Jahr in einer Fleischerei. Eine Cousine lebte damals in Uerdingen und hatte erfahren, dass in Krefeld die Fleischerei Weyes einen Nachfolger suchte. Dieses Ladenlokal an der Gutenbergstraße, Ecke Marktstraße, übernahmen die Kocjans im November 1982 und eröffneten hier die "Metzgerei Kocjan". Jetzt war ihr Leben soweit geordnet, dass sie einen Ausreiseantrag für ihren 10-jährigen Sohn Michael stellen konnten. Ihr Sohn Adam war damals schon volljährig und hatte zunächst beschlossen, in Polen zu bleiben, wo er eine sichere Arbeitsstelle hatte. Er folgte erst später nach Krefeld.

Und dann begann für Michael Kocjan die Zugreise nach Dortmund, die er nie mehr in seinem Leben vergessen wird. Die Eltern hatten zunächst keine Informationen, wann ihr Sohn eintreffen wird. Als dann der Anruf kam, war es für sie unmöglich pünktlich am Dortmunder Bahnhof zu sein, also baten sie einen Dortmunder Bekannten, den Sohn mitten in der Nacht in Empfang zu nehmen. Auf die Frage, wie er den Jungen erkennen würde, bekam er vom Vater die Weisung: "Such' nach mir", da Michael Kocjan dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelte. Endlich war die Familie vereint und Michael Kocjan erinnert sich: "Ich habe von Anfang an versucht mich hier in Krefeld zu hundert Prozent zu integrieren." Dazu musste er zunächst einmal deutsch lernen und hat auch bis vor ein paar Jahren ausschließlich deutsch gesprochen. Erst durch seine Frau, die noch ihre Eltern in Polen hat, hat er die polnische Sprache wieder aufgenommen und erkennt heute: "Je mehr Sprachen man spricht, desto reicher ist man."

Auf die Frage, wo Michael Kocjan seine Heimat hat, antwortet er ganz spontan: "Ich bin hier Zuhause. Auch wenn wir in Polen sind, sprechen wir von Zuhause, wenn wir von Krefeld reden." Und er ergänzt: "In Polen bin ich heute nur zu Besuch. Heimisch fühle ich mich nicht mehr, obwohl meine Kindheit dort natürlich präsent ist. Aber ich habe keinen Bezug mehr dazu."

Von Anfang an war die Familie Kocjan bestrebt, sich auch über ihr Warenangebot den Krefelder Kunden zu öffnen: "Die Stammkundschaft der Fleischerei Weyes sollten die Produkte finden, die sie gewohnt waren. Wir haben diese Produktpalette um die schlesischen Produkte erweitert, damit die Schlesier, die hier leben, die Sachen finden, die ihnen vertraut sind." Alte Familienrezepte vom Großvater haben sich hier bewährt.

Mittlerweile hat sich der Betrieb, den Michael Kocjan seit 2000 gemeinsam mit seinem Bruder Adam führt, vergrößert. Ebenso das Warenangebot: Neben den schlesischen Waren finden die Kunden ein Sortiment an polnischen Produkten wie Konserven, Zeitschriften oder Spirituosen. "Wenn ich ehrlich bin, macht mich das fast ein bisschen traurig", sagt Michael Kocjan, widerspricht diese Entwicklung doch seinem Integrationsanspruch. Dennoch bezeichnet er seine Kundschaft als "bunt gemischt", und die Weihnachts-Spezialität, die Schlesische Weißwurst, findet bei allen Anklang. Sie wird mit Milch und Zitrone hergestellt und mit einer Lebkuchensauce serviert.

(RP)
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