Krefelds AfD-Kandidat Martin Vincentz Porträt eines Unsichtbaren

Krefeld · Der neue Krefelder AfD-Landtagsab-geordnete Martin Vincentz hat auf Interviewanfragen nicht reagiert. Am Donnerstag ist die konstituierende Sitzung des Landtags. Dort wird er sich wohl der Öffentlichkeit zeigen. Porträt eines Unsichtbaren.

AfD: Krefelds Landtagsabgeordneter Martin Vincentz im Porträt
Foto: thinkstcok / rafal_olechowski

Selbst in der eigenen Partei ist Martin Vincentz ein Unbekannter. Bei Youtube findet sich ein Video mit der Rede, mit der Vincentz sich bei einem Parteitag für die Landtagskandidatur der AfD bewarb. Eine Delegierte nennt ihn in der Aussprache danach "relativ unbekannt" und fragt, warum er noch nicht sonderlich in Erscheinung getreten sei. Applaus; die Frage traf offenbar einen Nerv.

Vincentz erklärte, er mache "lieber im Hintergrund Sachpolitik". Nun, am Donnerstag, 15 Uhr, tritt der neue Landtag in Düsseldorf zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen; Vincentz muss dann aus den Hinterzimmern seiner Partei ins Licht des Landtags treten, Gesicht zeigen. Was ist über sein politisches Denken bekannt?

 Martin Vincentz.

Martin Vincentz.

Foto: AfD

Vieles davon ist harmlos, Allgemeingut oder vage. Würde man nur dies kennen, fragte man sich, warum die AfD so viel erbitterte Kritik auf sich zieht. Aufhorchen lässt es, wenn Vincentz geschichtliche Linien zieht: Wenn er den Anspruch erhebt, die AfD sei prophetisch und trete den "Altparteien" am Beginn einer neuen Ära entgegen. Vincenz spricht vom "kassandrischen Charakter unserer Prophezeiungen" in NRW und versteigt sich einmal dazu, den Philosophen Oswald Spengler (1880-1936) zu zitieren und vor dem "Untergang des Abendlandes" zu warnen.Es sei, sagt er auch, zwei vor zwölf.

AfD-ler sind offenbar durchdrungen von dem Gefühl, Teil einer Mission zu sein. Das kann man albern, aber auch gefährlich finden: Missionare, die sich in geschichtlichen Konflikten wähnen, neigen zu Radikalismen. Man wünscht Leuten wie Vincentz, dass sie, wenn sie sich in Rage reden, stets einen Teppich zum Draufbleiben finden. In seiner Bewerbungsrede sagt Vincentz auch diesen Rätselsatz: "Wir bewegen uns auf einen langen, harten, kulturellen Winter zu, und der etablierten Politik fällt nichts Besseres ein, als Durchhalteparolen auszugeben und unsere letzten Vorrechte zu verbrennen" - oder sagte er "Vorräte verfressen"?

Das ist akustisch tatsächlich schwer zu verstehen auf dem Video; sicher ist, dass Vincentz offenbar eine Epoche des Überlebenskampfes anbrechen sieht. Bitte was? Hier ist die AfD wieder die abstoßende, die gefährliche politische Kraft, die Ängste schürt und Befürchtungen ins Maßlose treibt. Kultureller Winter. Ist doch Humbug. Blanke Hybris ist es, wenn Vincentz behauptet, AfD-ler hätten mit ihren Voraussagen immer Recht gehabt. Er nennt die Finanzkrise, die Eurokrise und die Flüchtlingskrise. Fürs Protokoll: Die Finanzkrise brach 2007 aus, die Eurokrise 2010, die Flüchtlingskrise 2015. Die AfD wurde 2013 gegründet; 2015 wurde AfD-Gründer Lucke von Frauke Petry entmachtet, die Partei machte unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise einen scharfen Rechtsruck. Heißt: Diese Partei hat gar nichts vorausgesagt, sie betrat nach Beginn der Krisen die Bühne und hat auf sie reagiert.

Es ist schwer abschätzbar, ob Vincentz in seiner politischen DNA das ist, wonach manche seiner großspurigen Sätze klingen: ein Demagoge. Er ist sichtlich kein geübter Redner, bei seinem Vortrag vor der Delegiertenkonferenz wirkt er etwas verkrampft, und wenn er sich mit erhobenem Zeigefinger in seine Sätze hineinsteigert, steht da eher jemand, der sich unwohl fühlt, als ein instinktsicherer Einpeitscher. Es passt, wenn Vincentz über sich sagt, er arbeite lieber im Hintergrund.

Vincentz ist promovierter Mediziner und "in einer hausärztlichen Praxis als Arzt tätig", 30 Jahre alt und - darauf lassen Facebook-Fotos schließen - verheiratet. Er ist "landesfachpolitischer Sprecher für Gesundheit" seiner Partei. Er habe sich schon früh politisch engagiert, berichtete er in einer Wahlkampfzeitung der AfD. So habe er als Schülersprecher eine Demonstration gegen den Irakkrieg organisiert.

In die AfD ist er eingetreten, weil sie die "attraktive Möglichkeit" biete, außerhalb der gemütlichen Bahn etablierter Parteien zu denken und zu handeln. Das erinnert stark an das Joschka-Fischer-Prinzip: Junge Parteien bieten Neueinsteigern rasante Aufstiegsmöglichkeiten. Vincentz, vor einem halben Jahr noch ein Nobody, sitzt jetzt im Landtag. Einige seiner Äußerungen klingen überraschend sozialdemokratisch: Wenn man Deutschland erhalten wolle, müsse man die "soziale Frage" angehen, sagt Vincentz etwa und prangert an, dass 35 Familien im Land so viel besäßen wie 55 Prozent der ärmsten Deutschen.

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Er fordert dann aber nicht, was Linke an dieser Stelle verlässlich tun - mehr Umverteilung von oben nach unten. Nein; Vincentz betont, er wolle Unternehmern ihren Erfolg nicht neiden, er finde es nur "unredlich", wenn Top-Gehälter in einer Firma einen Arbeiter-Lohn um das 300-Fache übersteigen. Eine politische Forderung bleibt aus. Vincentz beklagt weiter, dass jedes vierte Kind in NRW unterhalb der Armutsgrenze lebe; er fordert, die Mittelschicht in ihrer Breite zu stützen, Rücklagen für die Rentner der Zukunft zu bilden und jungen Leuten nicht die Zukunft zu verbauen. Alles schön und gut. Und vage.

So ist es oft: Wenn es konkret werden könnte, bleibt vieles unkonkret - oder das Konkrete spiegelt den Stand der Debatte in allen Parteien wider. Gesundheitspolitisch - Vincentz' Fachgebiet - setzt sich die NRW-AfD für so revolutionäre Dinge ein wie bessere Infektionsprophylaxe, Stärkung der Versichertenrechte, Förderung von Landärzten, Hebammen und der freien Ärzteschaft. "Gesundheit", steht da, "ist auch eine Frage des Vertrauens."

Der Befund bleibt zwiespältig. Die AfD und Leute wie Vincentz empören und verstören immer dann, wenn sie sich in Positur werfen: Unheil voraussagen, Deutschland retten wollen, Ängste schüren. Auf der Ebene konkreter politischer Arbeit hingegen ist kein neuer Politikentwurf erkennbar.

Martin Vincentz hat nun im Landtag genug Zeit, das zu tun, was er ja angeblich am liebsten tut: Sachpolitik. Man darf gespannt sein, ob die AfD, wenn sie sich wirklich auf Sachpolitik einlässt, nicht den Tod durch Langeweile stirbt.

(RP)
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