Karriere ohne Schulabschluss Lasst den mal machen

Köln · Keinen festen Wohnsitz, keinen Schulabschluss, keinen Plan – eigentlich hätte Alexander Kulb als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten müssen. Dann wurde er Kioskbesitzer und Filmproduzent. Nun hat er schon wieder eine neue Idee. Und noch eine. Die Geschichte von einem, der es trotzdem geschafft hat.

 Alexander Kulb in seiner Creperie in Köln — nicht seine erste und vermutlich auch nicht seine letzte Geschäftsidee.

Alexander Kulb in seiner Creperie in Köln — nicht seine erste und vermutlich auch nicht seine letzte Geschäftsidee.

Foto: Andreas Endermann

Nach drei Wochen passiert, was der junge Mann, der so unbeschädigt scheint, schon am ersten Tag befürchtet hat. Was er an jedem einzelnen Tag seit der Eröffnung seines Ladens befürchtet hat. Weil er immer das Schlimmste erwartet, um auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Ein Donnerstagmittag im Januar kriecht voran, und Alexander Kulbs Creperie mit dem hübschen Namen Estafette ist leer. Vorhin noch hat ein junger Mann Linsensuppe gegessen, eine Frau die mit Hackfleisch, Lauch und Käse.

Doch jetzt gehen die Leute, die auf der Severinstraße in Köln unterwegs sind, an seinem Laden vorbei. Auf seinem Handy hat Kulb Fotos, die zeigen, wie voll es hier an den anderen Tagen war. Nicht, dass der Laden besonders groß wäre. Ein paar Tische, ein paar Stühle, eine Glastheke. Ein Imbiss eben. Aber voll ist voll. Die Leute aßen Crepes, Galettes und Suppen. Jetzt ruhen die zwei Platten.

Alexander Kulb ist ein schlanker Kerl von 21 Jahren, der so jung wirkt, dass es schwer fällt, ihn nicht Alex zu nennen. Dass Alex sich auf das Schlimmste einstellt, hat auch damit zu tun, dass ihm das Schlimmste bereits widerfahren ist. Nicht Dritte-Welt-schlimm, aber schon so übel, dass es für eine Sendung bei RTL2 gereicht hätte. Sein Leben hat eigentlich alles, was eine Verlierer-Geschichte braucht. Eine problematische Kindheit, finanzielle Unsicherheit, kein Schulabschluss, keine eigene Wohnung, kaum Hilfe von außen, keine Perspektive. Und doch schafft es dieser junge Mann, weil er so ist, wie er ist, seinem Leben eine andere Richtung zu geben. Alex' Geschichte ist die Geschichte von einem, der sich nicht abfinden wollte mit der Erzählung, die für ihn vorgesehen war.

Ab dem ersten Tag verläuft sein Leben nicht in den üblichen Bahnen. Seine Eltern, Mutter Deutsche, Vater Grieche, trennen sich vor der Geburt. Die Mutter unterbindet jeden Kontakt zwischen Vater und Sohn. Alex lernt ihn erst mit 18 kennen. Er wächst bei seiner Mutter im Kölner Stadtteil Ehrenfeld auf, als Ehrenfeld noch kein Szene-Viertel ist. Die Mutter verliert ihren Job, findet keinen neuen, bald leben sie von Hartz IV. Das Verhältnis zwischen ihnen ist nicht einfach. Alex fängt früh an zu arbeiten, unterstützt auch seine Mutter.

Ein halbes Jahr ohne Strom

Dann merkt Alex zum ersten, aber nicht letzten Mal, dass die Kölner Stadtverwaltung nicht unbedingt die zuverlässigste es. Es gibt Probleme mit der Sozialhilfe. Der Strom wird abgeklemmt. Ein halbes Jahr, so erzählt er, sind sie auf Kerzen angewiesen. Die Pfanne, in der er Bratkartoffeln macht, erhitzt er mit Brennpaste. In der Hauptschule fällt er zurück. Er ist müde, ohne Motivation. Schließlich müssen sie sogar aus der Wohnung raus, weil es weiterhin Probleme mit den Zahlungen gibt. Sie gehen einen Tag vor der Räumung. Die Mutter kommt bei ihrem Bruder unter, doch die Wohnung ist viel zu klein. Also sieht sich Alex lieber nach was anderem um. Mit 16 Jahren ist er ohne festen Wohnsitz und zieht ein Jahr von Freund zu Freund. Keine Chance mehr auf ein geregeltes Leben. An den schlimmsten Tag kann er sich genau erinnern: "Jeden Tag". Nach der neunten Klasse hat er so viele Fehlstunden, dass er nicht versetzt wird. Anstatt sie zu wiederholen, schmeißt er hin. Ohne Abschluss. Er will jetzt erst mal sein Leben regeln. Geld verdienen. Aufpassen, dass er nicht in Depressionen abrutscht, auf die schiefe Bahn gerät.

Donnerstagmittag, noch immer kein Kunde im Imbiss. Alex öffnet die Glastür zur Straße hin und lässt sie einrasten. Den Imbiss hat er zwar erst vor drei Wochen eröffnet, aber in dieser Zeit schon viel gelernt. Wenn die Tür nicht offen steht, haben die Leute Hemmungen hineinzugehen, weil sie denken, einen Vertrag einzugehen, wenn sie selbst die Tür öffnen. Wenn dann erst mal ein Kunde im Laden steht, trauen sich auch die anderen. Genau das passiert. Plötzlich hat Alex wieder viel zu tun. Vorübergehend. Dann ist sein Imbiss wieder leer. Und irgendwann wird es so kalt, dass er die Türe wieder schließen muss. Es regnet, kaum jemand ist auf der Straße. Kulb schaut auf die gegenüberliegenden Läden. Auch leer. Es wird Zeit, sich um andere Dinge zu kümmern. Es wird Zeit, an die Zukunft zu denken.

Wer mit 16 Jahren ohne festen Wohnsitz ist und keinen Schulabschluss hat, für den kann es eigentlich nur weiter abwärts gehen. Für Alex aber läuft es anders. Vielleicht auch, weil er anders ist. Er hätte Grund genug, die Schuld für seine Situation auf andere zu schieben, aber er erkennt, dass ihm das auch nicht hilft. Er erkennt, dass Drogen ihn nicht weiterbringen. Er arbeitet auch als Barkeeper, und einmal hat ein völlig betrunkener Mann kein Geld mehr fürs nächste Getränk. Also zieht er sich einen Zahn aus dem Kiefer, um damit zu bezahlen. Kriminell zu werden kommt für Alex auch nicht in Frage, weil er einsieht, dass es sich langfristig nicht lohnt. Kurz: Alex gerät allein schon deshalb nicht auf die schiefe Bahn, weil er zu klug ist. Stattdessen kämpft er sich raus aus dem Mist. Macht alle möglichen Jobs. Lichttechniker, Getränkelieferant, Kellner, Fahrzeugzulasser, Bauarbeiter. Benjamin Blümchen ist nichts dagegen. Nie macht er eine Ausbildung. Er lernt, indem er es macht.

Eigentlich suchte er auf Ebay nur Autoreifen

Er hat Leute, die ihn unterstützen. Einer von ihnen ist der Kabarettist Jürgen Becker. Die beiden haben sich an Alex' Hauptschule kennengelernt, als Becker sich dort engagierte. Becker erkennt: "Ein schlechter Schüler, aber sehr aktiv." Sie freunden sich an, Becker besorgt ihm ein paar Jobs in seinen Sendungen. Mit elf hat sich Alex seine erste Kamera gekauft.

Als er sich aus dem größten Mist befreit hat, als er genug Geld verdient, um sein Leben inklusive Wohnung bezahlen zu können, da beschließt er: Ich probiere jetzt so lange Berufe aus, bis ich etwas gefunden habe, was mir gefällt. Denn tiefer fallen als in seiner Jugend kann er nicht mehr, und das hat ihn schließlich auch nicht umgeworfen. "Aus dir wird mal was — wir wissen nur nicht, was", sagt Becker ihm einmal.

Mit 18 Jahren meldet Alex eine Filmproduktions-Firma an. Imagefilme, Hochzeits- und Musikvideos. Er kann zum ersten Mal in seinem Leben sagen, dass es ihm gut geht. Doch Alex ist Alex, und nur Filmproduktion reicht ihm nicht. Eines Tages sucht er in den Ebay-Kleinanzeigen nach Autoreifen, stolpert aber über einen Kiosk, der zum Verkauf steht. Weil der Kiosk runtergewirtschaftet ist, kann Alex den Preis von 15.000 auf 6000 Euro drücken und wird Kioskbetreiber. Renoviert nachts. Öffnet tagsüber. Steigert die Tageseinnahmen von 50 Euro. Doch es vergeht kein halbes Jahr, da wirft er schon wieder sein Leben um. Ein russischer Geschäftsmann, ein Bekannter, bietet ihm an, für ein halbes Jahr als Manager im Restaurant eines Freundes auf Malta zu arbeiten. Danach soll er im Restaurant des Russen in Köln anfangen, das kurz vor der Eröffnung steht. Kulb verkauft seinen Kiosk für 15.000 Euro, gibt seine Filmproduktion auf, verkauft die Ausrüstung und reist im März 2015 nach Malta. Das nächste Abenteuer.

Und schon wieder braucht er einen neuen Plan

Ein halbes Jahr. Eine schöne Zeit. Frauen, Strand, Bier. Aber arbeiten von zehn Uhr morgens bis ein Uhr nachts. Dann kehrt Alex nach Köln zurück. Doch die Eröffnung des Restaurants verzögert sich, weil noch eine Genehmigung vom Amt fehlt. Die Stadt Köln mal wieder. Kulb hilft schon mal, wo er kann, doch solange das Restaurant nicht eröffnet, will der Russe ihn nicht bezahlen, erzählt Kulb später. Also geht er. Und braucht wieder einen neuen Plan.

Erst hat er die Idee, mit einem Freund eine Kneipe zu eröffnen. Doch Becker rät ihm ab. Und weil Ebay ihm schon einmal geholfen hat, sieht er sich dort wieder um — und stößt auf einen türkischen Wrap-Laden an der Severinstraße. Die Frage ist nur: Was soll er in dem Laden machen? Kochen darf er nicht, weil es keine Dunstabzugshaube gibt. Dann isst er bei Freunden Pfannkuchen, stellt fest, dass jeder Pfannkuchen mag und ist schnell bei Crepe. Er hat in seinem Leben noch keinen Crepe gemacht, aber das kann er sich ja beibringen. Und das Rezept für eine Suppe. Oder zwei. Oder drei. Den Türken handelt er um 15.000 Euro runter, steckt fast 30.000 Euro rein, das meiste Ersparnisse, der Rest ein Kredit, baut um, richtet ein. Alles im Alleingang. Learning by doing. Weil es noch eine Genehmigung braucht und die — natürlich — auf sich warten lässt, kann er erst Mitte Dezember eröffnen. Wenn er von seinen Erlebnissen mit der Stadtverwaltung erzählt, erinnert das an einen Kafka-Roman.

Donnerstagnachmittag, noch immer kein Kunde in Sicht. Also kümmert sich Alex um den nächsten Plan. Nein, die nächsten Pläne. Denn wenn immer er sich seinen Laden anschaut, sieht er, was sich noch verbessern ließe. Eine Suppe hat er schon von der Tafel genommen, weil sie nicht gelaufen ist. Die anderen kocht er jeden morgen selbst. Bald will er auch Brötchen anbieten und Scampi, aber gerade kümmert er sich um den Keller. Der ist ungenutzt, und das darf nicht sein. Proberäume für Bands sollen da rein. Mit Aufnahmemöglichkeit. Deshalb räumt er erst mal mit seinem Freund André auf, der heute einen Mitarbeiter vertritt. Die Proberäume will er selbst einrichten, das Dämm-Material hat er sich schon im Internet angesehen. Nicht, dass er das schon mal gemacht hätte. Aber dann lernt er es eben. Vielleicht wollen die Bands im Proberaum ein Konzert geben, und das überträgt er dann in der Creperie. Und bald soll draußen ein Estafette stehen, ein französischer Kleintransporter mit Sitzplätzen. Und irgendwann, irgendwann will er ein eigenes Restaurant haben. Die Energie, die er, der hyperaktiv war, früher in Bewegung gesteckt hat, steckt er nun ins Denken, sagt er. Sinniert dann über Fragen wie: Wenn eine Katze immer auf den Füßen landet und ein Toastscheibe immer auf der bestrichenen Seite — was passiert, wenn man den Toast auf den Rücken einer Katze legt?

Dann stellt sich Natalja vor

Am frühen Abend geht Alex vor die Tür und raucht eine Zigarette mit seinem Nachbarn Herbert. Der 70-Jährige führt seit mehr als vier Jahrzehnte ein Geschäft für Damenmode.

"Was nimmt dein Fensterputzer?", fragt Alex, "ich habe immer noch Streifen."

"50 Euro im Monat."

Herbert hat die Hochzeit der Severinstraße erlebt, mittlerweile sieht er schwarz. Als vor einigen Jahren die U-Bahn umgebaut wurde, war hier Baustelle, davon habe sich die Straße nicht mehr erholt. Der Branchenmix stimme nicht. Es brauche mehr Frequenz. Mindestens das Doppelte. Trotzdem glaubt er an Alex' Idee. "Er kann keine Reichtümer verdienen, aber es wird laufen."

Alex geht zurück in den Laden. Kurze Zeit später stellt sich Natalja vor. Natalja ist 22, Schauspielschülerin, und würde gerne für ihn arbeiten. Sie setzen sich an den hintersten Tisch und sprechen. Ein Paar betritt den Laden. Spontan bindet sich Natalja die Schürze um, nimmt die Bestellung auf, lässt sich von Alex das Crepe-Backen erklären. Teig auf die Platte geben, verteilen, warten, dass sich der Rand löst, weil er dünner ist als der Rest, mit dem Wender fühlen, wie fest der Crepe ist, wenden, Nutella auf dem Crepe verteilen, Bananenscheiben aus der Schale schneiden, Crepe zusammenlegen. Es wirkt, als mache Kulb das schon Jahre. Nur dass die Platten mit Gas beheizt werden, nicht mit Brennpaste. Nach wenigen Minuten wirken Alex und Natalja, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Sind schnell beim Du. Bald weiß er auch, dass sie einen Freund hat. Leider.

Als das Paar den Imbiss verlässt, sagt die Frau: "Bis zum nächsten Mal".

Die Katze mit dem Toast auf dem Rücken. Vielleicht dreht sie sich auch ewig weiter.

(seda)
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