Vom Schlaganfall zum Karnevalsprinz Helmuts großer Traum

Kleve · Nach einer Hirnblutung liegt Helmut Vehreschild im Koma, sein Sprachvermögen hat erheblichen Schaden genommen. Nur Tage später fasst er den Entschluss: Er will an seinem Traum, einmal Karnevalsprinz zu sein, festhalten. Die Geschichte eines ungewöhnlichen Kampfes.

Karneval 2016 in Kleve: So war der RP-Prinzenempfang
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So war der RP-Prinzenempfang in Kleve 2016

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Foto: Evers, Gottfried

Der Schweiß rinnt ihm in kleinen Bächen die Stirn herunter. Montagabend, zum ersten Mal kann Helmut Vehreschild durchatmen. "Mir geht es super”, sagt er grinsend. "Richtig anstrengend wird es erst ab Altweiber.” Gerade ist der 58-Jährige samt Garde und Musikzug ins Klever Kolpinghaus eingezogen. Vorne ein kleiner Thekenbereich, hinten im Saal Frikadellenbuffet. Schnell ist den Besuchern so warm, dass der Wirt mit dem Zapfen kaum nachkommt.

Vehreschild hat gesungen und getanzt, Orden verliehen und Fragen beantwortet. Das kleine Prinzen-Ein-Mal-Eins. Wenn er einmarschiert, zieht der 58-Jährige die Blicke auf sich. Dafür sorgt seine entwaffnende Art, dabei hilft seine Statur: 110 Kilogramm in voller Montur, vor ein paar Tagen hat er für den guten Zweck wiegen lassen. "Genau so habe ich mir das immer vorgestellt”, sagt er.

Seit 2011 weiß der Klever, dass er Karnevalsprinz seiner Heimatstadt werden soll. Seit 30 Jahren mischt er beim Karnevalsverein Brejpott-Quaker mit, in den letzten Jahren als Präsident. Ein Mann, wie gemacht für die Aufgabe — und doch der unwahrscheinlichste Prinz, den die Stadt seit langem hatte.

Komplikationen bei Hirn-Operation

"Es war der 26. März”, sagt Vehreschild. Er ist Lokalsportredakteur der Rheinischen Post in Kleve, seit er 15 Jahre alt ist schreibt er für die Zeitung. Genau wie an jenem Donnerstag, als ihn im Büro ein seltsames Gefühl überkommt. "Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren, habe die Worte nicht mehr gefunden”, sagt er. Im Krankenhaus diagnostizieren die Ärzte einen Schlaganfall. Zunächst sieht alles danach aus, als ob er Glück im Unglück haben würde, dann aber gibt es Komplikationen. Vehreschild kommt in eine Spezialklinik, bei einer Operation am Hirn treten Blutungen auf. Nach dem Eingriff legen ihn die Ärzte ins künstliche Koma.

"Als ich aufgewacht bin, wusste ich die Namen meiner beiden Töchter nicht mehr”, sagt er.

Aphasie, Sprachstörung durch Schädigung des Gehirns. "Ich bin kein Arzt, aber wenn ich mir die Aufnahmen des Bereichs anschaue, ist da ganz schön viel schwarz”, sagt Vehreschild. Die ersten Tests machen deutlich, wie schwer es den 58-Jährigen getroffen hat. Ihm werden Bilder von Alltagsgegenständen gezeigt: Messer, Gabel, Tomate. "Von 40 habe ich 35 nicht benennen können”, sagt er. "Ich habe zwar gewusst, was man damit macht. Aber wie es heißt? Keine Ahnung.”

Zu behaupten, Vehreschild habe sofort das Beste aus der Situation gemacht, wäre wohl gelogen. "Ich habe schon ein paar Tage dagelegen und gebraucht, um das alles zu verarbeiten”, sagt er. Ich habe ja mein Leben lang mit Worten gearbeitet — und plötzlich war alles weg.” Wofür ihn viele heute noch für verrückt halten: Nach drei Tagen, als lange nicht klar ist, ob und wie schnell sein Sprachvermögen zurückkehren wird, fasst er einen Entschluss: "Ich habe meiner Frau gesagt, ich habe ein Ziel: Am 21. November bin ich als Prinz Karneval in der Stadthalle.” 240 Tage.

Was manch einer zunächst für einen Witz hält und andere in seinem Umfeld ernsthaft besorgt, es wird für Helmut Vehreschild zum Motor. Er arbeitet mit Logopäden, nimmt an einem Forschungsprojekt der Hogeschool van Arnhem en Nijmegen (HAN) in Nimwegen teil. "Wir haben Helmuts Karnevalsrede mit ihm eingeübt. Satz für Satz, mit Betonung. Dabei haben wir alles auf Video aufgenommen", sagt Studentin Maike Dehmer. Er arbeitet wie ein Besessener, mit jedem Helau kämpft sich Vehreschild zurück ins Leben. Wenn manches nicht klappt, flucht er kurz. Dann geht es weiter.

Sponsoren erst skeptisch

Es überzeugt nicht jeden: Sponsoren bleiben erst skeptisch, weil niemand garantieren kann, ob der Traum nicht doch noch platzt. Wer unterstützt schon einen Prinzen, der nicht einmal weiß, ob er auftreten kann? "Morgens habe ich die Werbetrommel gerührt. Danach habe ich mich sofort wieder hingelegt”, sagt er. Woche für Woche. Spätestens, als die Garde-Kostüme kommen, ist auch dem Letzten klar: Der meint das ernst. Und er überzeugt jeden.

Vehreschild wird Prinz Karneval in der Stadthalle. Helmut "der Sportliche” - seinen Orden ziert ein Tischtennisschläger. Noch so eine Leidenschaft, die zuletzt hintenanstehen musste. Erst sichert er sich noch mit Spickzetteln ab, mittlerweile verzichtet er sogar auf die. "Wenn mir mal was nicht einfallen sollte, rede ich einfach drum herum”, sagt er. Er könne jeden verstehen, der ihn in den vergangenen Monaten für nicht ganz dicht gehalten habe. "Aber das ist wirklich die Erfüllung meines Traumes.” Hunderte Termine in wenigen Wochen. Im Endspurt ab 7.30 Uhr morgens.

Triumphale Auftritte

Am Rosenmontag zieht der Karnevalszug durch die Straßen von Kleve. Es wird der Zug von Prinz Helmut. An seiner Seite ist dann Tochter Lea, mit der er einen Tag zuvor den 13. Geburtstag gefeiert hat. Gemeinsam fahren sie dann genau an den Räumen vorbei, in denen den 58-Jährigen im März ein seltsames Gefühl überkam.

Nicht zuletzt die Auftritte bei "seinen” Brejpott-Quakern sind ein Triumph. "Die Stimmung, der Empfang. Unfassbar”, sagt er. Als Tochter Dana (24) überraschend die Bühne betritt, um sein eigens komponiertes Prinzenlied anzustimmen, kämpft Helmut Vehreschild noch mit den Tränen. Als alle gemeinsam dann das ortseigene Heimatlied anstimmen, muss er endgültig weinen.

Es ist der Moment, in dem auch Prinz Helmut "dem Sportlichen” klar wird: Man muss nicht jeden Kampf gewinnen.

(lukra)
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