Kleve Mohammeds Flucht von Ghana an den Niederrhein

Kleve · Der 16-Jährige aus Ghana wurde entführt und verschleppt. Er flüchtete wie rund 7500 andere Minderjährige im vergangenen Jahr nach Deutschland - völlig auf sich allein gestellt. Am Niederrhein lebt er nun in einer WG.

 Mohammed malt nach der Flucht in seinem neuen Zimmer in Kleve.

Mohammed malt nach der Flucht in seinem neuen Zimmer in Kleve.

Foto: Evers, Gottfried

Wenn Mohammed erzählt, was er in den vergangenen zwei Jahren erlebt hat, wirkt er beinahe distanziert. So, als würde der 16-Jährige über einen entfernten Bekannten sprechen, über das Leid der anderen. "Ich komme aus Ghana. Ich wurde entführt", sagt er. Mohammed sitzt an einem Küchentisch im niederrheinischen Kleve. Dass er es dorthin geschafft hat, könnte man den unwahrscheinlichsten aller möglichen Ausgänge seiner Geschichte nennen.

Mohammed ist in Westafrika geboren. "Bei uns herrscht viel Korruption, die Menschen bringen sich gegenseitig um", sagt er. Der Jugendliche will weg, nach Europa. Aber nicht so: Er wird überfallen und von einer Bande Krimineller verschleppt. "Ich sollte für sie arbeiten", sagt Mohammed. Sie schmuggeln ihn nach Spanien, die Meerenge von Gibraltar ist ein beliebter Weg bei Schleppern und Menschenhändlern. "Ich sollte als Prostituierter für Homosexuelle dienen", erzählt er. "Ich bin gläubiger Moslem. So etwas kann ich nicht tun." Die Bande will ihn mit Gewalt zwingen, in einem unbemerkten Moment gelingt ihm jedoch die Flucht. Erst in die Niederlande, schließlich nach Deutschland. Als er aufgegriffen wird, gilt er als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. "Ich kenne hier niemanden, habe keine Familie", sagt er.

Mohammed ist kein Einzelfall. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sich ohne Familienangehörige auf der Flucht befinden, ist in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Die meisten stammen aus Afghanistan, Südsudan und Somalia. Die Uno-Flüchtlingshilfe beziffert die weltweite Zahl der Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger im Jahr 2013 auf 25 300 - Höchststand seit Beginn der Erhebung. Dem Statistischen Bundesamt zufolge kamen im selben Jahr insgesamt 6584 von ihnen in Deutschland unter. Das sind etwa 2000 mehr als im Jahr zuvor und sechs Mal so viele wie 2008. "Im vergangenen Jahr sind die Zahlen noch einmal gestiegen. Wir rechnen mindestens mit 7500 Minderjährigen, die ohne Angehörige aufgenommen wurden", sagt Birgit Naujoks, Geschäftsführerin der Organisation Flüchtlingsrat NRW.

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Fast 90 Prozent der Kinder, die in Deutschland ankommen, sind Jungen. "Das kann kulturelle Gründe haben. Im Islam werden selten Mädchen alleine losgeschickt", sagt Naujoks. Zudem ist eine Flucht teuer. "Da legen Familien oder auch ganze Dörfer zusammen, um den stärksten Sohn loszuschicken", sagt sie. Weil eine Flucht Monate oder gar Jahre dauern kann, werden Mädchen die Strapazen oft gar nicht zugetraut. Dabei geht es nicht nur um Einsamkeit, Stress und Hunger. "Immer wieder hören wir von Übergriffen, Vergewaltigungen oder Menschenhandel. Bei Mädchen wie bei Jungen", sagt Naujoks.

Der 16-Jährige lebt seit zwei Wochen in einer Wohngemeinschaft in Kleve, er teilt sich das Haus mit acht Jugendlichen. Von dem Schreibtisch seines Zimmers im ersten Stock aus kann er auf den Schulhof eines Gymnasiums in der Nachbarschaft blicken. Kurz schaut er den Kindern beim Spielen zu - Kinder, die das Glück hatten, in einem friedlichen Land geboren zu sein. "Ich möchte einfach für immer hier bleiben", sagt er.

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Foto: Köhlen, Stephan (TEPH)

Die Wohngemeinschaft wird er aber schon in wenigen Monaten wieder verlassen müssen. "Mohammed lebt derzeit in einer Clearing-Gruppe. Dort muss erst einmal sorgfältig die Identität und der Hintergrund der Jugendlichen geklärt werden", sagt Norbert Pastoors, Geschäftsführer der Jugendhilfe-Organisation "Anna-Stift", die das Haus betreut.

Die jugendlichen Flüchtlinge werden meist von der Bundespolizei aufgegriffen, an Grenzübergängen, Verkehrsknotenpunkten oder Bahnhöfen. "Manchmal fliegen sie bei Kontrollen auf. Es kommt aber auch vor, dass sie selbst auf die Beamten zugehen oder Menschen ansprechen", sagt Pastoors. Zuständig ist dann das Jugendamt des Ortes, an dem der Flüchtling aufgegriffen wurde. Ohne Ausweispapiere müssen sich die Behörden auf die Aussagen und den Augenschein verlassen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit gilt auch für Flüchtlinge - nur im Falle eines begründeten Zweifels sind auch medizinische Untersuchungen erlaubt, beispielsweise Röntgenaufnahmen von Handwurzelknochen zur Altersbestimmung. Der Verdacht: Die Flüchtlinge erfinden Geschichten und machen sich absichtlich jünger, um vom Jugendamt in Obhut genommen zu werden. "In manchen Kommunen scheint es aber grundsätzliche Zweifel zu geben, so viele Untersuchungen werden gemacht. Dabei sind unbegründete Eingriffe nichts anderes als Körperverletzung", sagt Birgit Naujoks. Drei Monate dauert das Clearing-Verfahren in der Regel.

Mohammed besucht eine Hauptschul-Sonderklasse, dort lernt er gemeinsam mit anderen Flüchtlingen Deutsch. "Das Erlebnis Flucht verbindet", sagt Norbert Pastoors. Das Zimmer des 16-Jährigen hängt voller Zeichnungen. Disney-Figuren, Tiere, eine Karte seiner Heimat. Ganze Hefte hat er vollgemalt. "Meine Kreativität kann mir keiner nehmen, sie war schon immer in meinem Kopf", sagt er.

Die Flüchtlinge kochen gemeinsam, treiben Sport und machen Musik. Als kurz vor dem Mittagessen der Name Boateng fällt, beginnt unter den umherstehenden Altersgenossen sofort eine lebhafte Diskussion über Fußball. Auch die Betreuer machen mit. "Wir wollen ihnen das Gefühl geben, bei uns willkommen zu sein", sagt Norbert Pastoors. Damit setzen sie auch ein Zeichen. Denn oft bestimmen Zerrbilder die Schlagzeilen, wie das Beispiel der Stadt Hamburg zeigt: Dort gelten 50 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge als kriminell - von insgesamt 1300. 96 Prozent wollen sich offensichtlich integrieren, ein normales Leben führen. Aber Flüchtlinge eignen sich gut zum Sündenbock. Sie verteidigen sich nicht.

In Deutschland bleiben dürfen längst nicht alle, auch wenn sie minderjährig sind. "Es hängt immer vom Einzelfall ab. Aber es gibt bestimmte Herkunftsländer, bei denen wir von vorne herein davon abraten, einen Asylantrag zu stellen. Da hilft nur die Ausländerbehörde", sagt Birgit Naujoks. Manche Staaten gelten den Umständen entsprechend als sicher. Albanien zählt dazu, aber auch viele afrikanische Länder. Länder wie Ghana.

Mohammed muss sich darauf einstellen, wieder abgeschoben zu werden. Dass das Land, in das er flüchtete, ihn nicht willkommen heißt. Dass er zurück dorthin muss, wo er entführt wurde. Dass seine Flucht vergebens war.

(RP)
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