Stadt Kempen "Wir sind tief gerührt"

Stadt Kempen · Im November dieses Jahres sollen die nächsten neun Stolpersteine in Kempen verlegt werden. Auch Nachfahren Ermordeter werden daran teilnehmen. Informationen über die Nazi-Opfer bietet ein Rundgang mit Dr. Hans Kaiser.

Kempens Altstadt hat viel zu bieten: Bewundernswerte Baudenkmäler, gut geführte Geschäfte, eine gaumenfreudige Gastronomie - und seit dem 15. Dezember vorigen Jahres acht Stolpersteine, hier vom Verfasser ganz bewusst aufgeführt als Teil des täglichen Stadterlebens. Denn die Absicht der Gedenktäfelchen ist, die Fußgänger eher beiläufig über ihre Inschriften "stolpern" zu lassen, zum Innehalten und Nachdenken zu bringen: Über die Deportation und Ermordung der jüdischen Schwestern Berta, Caroline und Johanna Berghoff, Engerstraße 38; über die Hinrichtung des polnischen Zwangsarbeiters Marian Kurzawa wegen "Rassenschande", Engerstraße 21; und über die Verfolgung bzw. Ermordung von Andreas, Paula, Lieselotte und Kurt Mendel, Von-Loë-Straße 14. Einen Sinn haben die Steine nur, wenn sie bewusst wahrgenommen werden, damit die Erinnerung an Kempen im Nationalsozialismus wach gehalten wird. Da bieten sich Stadtrundgänge an, vor allem mit jungen Leuten. Die geben das Gedenken an die nächste Generation weiter.

Einen solchen Rundgang unternahm jetzt wieder der Kempener Historiker Dr. Hans Kaiser, diesmal mit der Klasse 10 b der Erich Kästner Realschule. Ziel sollten diesmal auch einige zukünftige Verlegungs-Orte von Stolpersteinen sein. Es regnete, aber das Interesse der Schüler war enorm: Geschichte vor Ort zu erleben ist aufregend. Zudem hat Kaiser für seine Spurensuche illustrierte Infoblätter gefertigt, die die Opfer und ihre Häuser in Text und Bild gegenwärtig machen. Ausgangspunkt ist meist der Gedenkstein am Ausgang der Mülhauser Straße zum Ring, wo am 10. Februar 1945 das Zentrum des schwersten Luftangriffs auf Kempen war. Weit und breit kam hier niemand mit dem Leben davon. Deshalb lautet der Text der Tafel: "Euer Opfer sei uns Mahnung zum Frieden."

Von dort ist es nur ein Schritt bis zu der Stelle, wo einst das Haus von Josef Voss stand. Der hatte bei seiner Zangengeburt eine leichte Gehirnschädigung erlitten, die bei ihm zu sekundenlangen Abwesenheitszuständen und Verstehens-Schwierigkeiten vor allem beim Rechnen führte, später zu einer gewissen Verwirrtheit. Unter den Nazis Grund genug, ihn 1936 auf Antrag seines Hausarztes durch das Kempener Gesundheitsamt in die Klinik Süchteln einweisen zu lassen, wo man ihn medikamentös ruhig stellte und von einer Abteilung in die andere schob. 1941 wurde er in der Tötungsanstalt Hadamar mit Gas ermordet. Sein Bild auf dem Info-Blatt zeigt sein vor Angst entstelltes Gesicht, und Speichel fließt ihm aus dem Mund. Auf seiner Schulter liegt eine Hand. Das ist der Wärter, der ihn fest hält, damit er bei der Einweisung in Süchteln fotografiert werden kann.

So folgt ein Halt auf den anderen. An Opfern ist kein Mangel, insgesamt 50 sind für die Stadt Kempen nachgewiesen. Vor dem einstigen Handarbeitsgeschäft von Jettchen Winter, Ellenstr. 5, wo sich heute das Schmuckgeschäft "Die Schatzinsel" befindet, erzählt Kaiser vom Schicksal des 93 Jahre alten Simon Winter. Als am Vormittag des 10. November 1938 Kempener SA-Leute eindringen und die Möbel zerschlagen, liegt der alte Mann im Bett. Er hört den Lärm, steht auf, wird zu Boden geschlagen und erleidet Verletzungen im Gesicht. Seine fünfjährige Enkelin Elsa sieht mit an, wie die Wohnungseinrichtung zerschlagen wird. Als die Nazis die Wohnung verlassen haben, stürzt die Familie Winter - der alte Simon, seine Kinder Emilie, Henriette und Salomon, seine Enkel Elsa und Gabriel - in Panik aus dem Haus.

Das sehen an der anderen Seite der Ellenstraße der Kempener DRK-Leiter Wilhelm Heinen und seine Frau Margaretha. Die Eheleute öffnen den verstörten jüdischen Nachbarn die Tür und bringen sie für mehrere Tage in den Mansardenzimmern im dritten Stockwerk des 1996 abgebrochenen Gebäudes unter. Die Heinens versorgen die Versteckten mit Essen. Dann ist es ausgerechnet Franz Hauzeur, NS-Ortsgruppenleiter von 1933-1935, der den alten Mann in einer dunklen Nacht auf dem Gepäckträger seines Fahrrads ins Kempener Krankenhaus bringt, wo Simon Winter Essen und ein Bett findet, bis sein Sohn, der emigrierte Dr. Karl Winter, ihn in die Niederlande nachholen kann. Hauzeur aber verliert seine Ämter.

Und Kaiser berichtet, dass für November die nächste Stolperstein-Verlegung geplant ist. Einer für Johanna Duda, Ellenstraße 10, die wegen eines Nervenleidens nach Süchteln gebracht wurde, wo sich ihre Spur verliert. Auch für den Friseur Heinrich Wolff, der den Soldatentod seines Sohnes in Russland nicht verwinden konnte und sich in bitteren Witzen Luft machte. Im Zuchthaus Arnsberg ist er bei einem Bombenangriff umgekommen.

Schwerpunkt wird die jüdische Metzger-Familie Hirsch sein, die ihr Geschäft Peterstraße 23 hatte - an der Stelle des heutigen Kolpinghauses. "Das waren großzügige Menschen, die in Kempen einen guten Namen hatten und ein Herz für arme Leute. Kinderreichen oder Arbeitslosen schnitten die das Stück Wurst ein bisschen größer ab, als sie eigentlich kostete", hat sich die 1927 geborene Zeitzeugin Maria-Pauline Laurenzen erinnert. Im Dezember 1941 bringt die Kempener Polizei den Inhaber Isidor, seine Frau Johanna und seine Schwester Hannchen Hirsch mit acht anderen Juden in das "Judenhaus" Josefstraße 5. Es ist der Vorhof zur Deportation.

Die erfolgt am 25. Juli 1942 nach Theresienstadt. Wenig später lässt das Kempener Finanzamt die Habseligkeiten der Hirschs wie die der anderen Ermordeten in der Mädchenoberschule an der Thomasstraße versteigern. Dort in der Turnhalle im Hochparterre hat man das zurückgelassene Mobiliar zur Begutachtung aufgestellt. Aber die besten Stücke sind schon weg, als der Hammer fällt. Hier haben sich Angehörige von Stadtverwaltung, Polizei und Finanzamt bedient. Der Schreibtischsessel des Metzgermeisters Isidor Hirsch bereichert das Büro des Kempener Finanzamts, das damals im Franziskanerkloster untergebracht ist (Inventar im Landesarchiv Duisburg).

Und da sind Isidors Kinder: Die immer fröhliche Emmy, die mit ihrem kleinen Sohn Fred im KZ Sobibor vergast wurde; der hoch begabte Dr. Walter Hirsch, der nach einem glänzenden Abitur am Thomaeum ein begnadeter Physiklehrer wurde, für den sich sogar Albert Einstein einsetzte; trotzdem wurde er im August 1942 in Auschwitz ermordet. Emigrieren konnten in letzter Minute - die Wehrmacht war bereits in Polen einmarschiert - die Söhne Leo und Paul, Metzgermeister wie der Vater. Ihnen allen sollen Stolpersteine gewidmet werden: Sieben für die Mitglieder der Familie Hirsch; finanziert werden sie von der Kempener Familie Renkes, die damals alles getan hat, um den jüdischen Nachbarn beizustehen. Mit den oben genannten Opfern Johanna Duda und Heinrich Wolff sollen im November also neun Stolpersteine verlegt werden.

Die Nachfahren der Familie Hirsch, die in Neuseeland, den USA und England leben, sind von der bevorstehenden Ehrung tief angerührt. "My family and I have been deeply moved by your letters", hat Roger Hirsh, der Sprecher der Familie, der Kempener Stolperstein-Initiative gemailt. Und er hofft, dass seine Tochter Leora und seine Kusine Hannah zur Verlegung nach Kempen kommen können.

(hk-)
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