Stadt Kempen Spuren der Vergangenheit

Stadt Kempen · Die Jüdin Mirjam Honig aus Kempen hat die NS-Zeit überlebt. 1936 emigrierte ihre Familie. Um ihrer Nichte aus Tel Aviv ihren Geburtsort zu zeigen, unternahm sie 73 Jahre später einen Rundgang auf den Spuren der Vergangenheit.

"Früher war die Treppe niedriger", sagt Mirjam Honig. Die 86jährige Jüdin steht auf dem Podest des Sparkassengebäudes an der Kuhstraße, wo ihr Vater, der Kempener Anwalt Dr. Karl Winter, seine erste Kanzlei hatte. Vermieter war der Steuerberater und Treuhänder Dr. Bruno Erkes, seit dem 1. April 1930 NSDAP-Mitglied. Später verwaltete Erkes in Verbindung mit dem Kempener Finanzamt das Vermögen der Juden, die von den Nazis zur Emigration gezwungen wurden, nachzulesen in Gestapo-Akten, die heute im Düsseldorfer Hauptstaatsarchiv aufbewahrt werden.

Zur Emigration gezwungen wurde auch Mirjam Honig mit ihrer Familie. Bereits im Juli 1933 hat Dr. Winter als einer der ersten jüdischen Anwälte in der Region seinen Beruf aufgeben müssen. Nun weiß er nicht, wie er seine Familie durchbringen soll. Da bietet ihm der St. Töniser Krawattenfarikant Hans Rombach einen Job an: Dr. Winter soll in Rombachs Auftrag Krawatten verkaufen.

Aber der Wandergewerbeschein wird ihm vom Kempener Ordnungsamt bald entzogen. Bunte Binder und Hosenträger im Musterkoffer, versucht der Jurist sein Glück als Schlips-Vertreter in den Gebieten jenseits der holländischen Grenze. Mit Kapital, das Rombach ihm vorschießt, gründet er im Juli 1934 in Venlo eine kleine Krawattenfabrik.

Nachdem am 15. September 1935 in Nürnberg Rassegesetze verkündet worden sind, die die Juden quasi aus der deutschen Gesellschaft ausschließen, werden auch am Eingang zum Kempener Burgpark und zu den Spielplätzen Schilder mit der Aufschrift "Für Juden ist der Zutritt verboten" aufgestellt. In Kempen blicken die meisten nun zur Seite, wenn sie einem jüdischen Bekannten begegnen.

Warum die Familie dann Kempen verließ, erzählt Mirjam Honig, als sie an der Ecke Burgstraße/ Orsaystraße steht — wo sich bis 1974 das Hohenzollernbad erhob. Als sie dort beim Schulschwimmen an der Kasse vorbeigestürmt ist, hat der Kassierer sie zurückgerufen und, ohne ein Wort zu sagen, nur nach oben gezeigt, wo das bekannte Verbotsschild hängt. "Als ich das sah, schnitt es mir wie ein Messer durch den Leib", erinnert sie sich noch heute.

Letzte Rundgang-Station: Das Mahnmal an der Umstraße. Hier wird am 10. November 1938, der so genannten "Kristallnacht", die Synagoge niedergebrannt. In seiner Wohnung Ellenstraße 5 wird Karl Winters 94jähriger Vater Simon, den in Kempen Verwandte umsorgen, zu Boden geschlagen. Sein Sohn schafft es, den verstörten alten Mann in die Niederlande nachkommen zu lassen. In Amsterdam, wohin Dr. Winter ihn in einem Heim untergebracht hat, stirbt Simon Winter am 12. Januar 1941. Dort auf dem Judenfriedhof ist er auch begraben.

(RP)
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