Serie Vor 70 Jahren "Helft also deutschen Volksgenossen!"

Stadt Kempen · Von 1945 bis 1950 erreichten fast 25.000 meist ostdeutsche Vertriebene und Flüchtlinge den damaligen Kreis Kempen-Krefeld.

 Diese Notunterkunft für Vertriebene in Oedt - am Ortsausgang in Richtung Süchteln-Hagenbroich - existierte noch viele Jahre nach Kriegsende. Diese Aufnahme stammt vom Juli 1965.

Diese Notunterkunft für Vertriebene in Oedt - am Ortsausgang in Richtung Süchteln-Hagenbroich - existierte noch viele Jahre nach Kriegsende. Diese Aufnahme stammt vom Juli 1965.

Foto: Kreisarchiv

Kempen / Grefrath Manchen leichtfertigen Vergleich mit der Flüchtlingssituation vor 70 Jahren kann man zur Zeit allenthalben hören. Manch Unvergleichliches wird der Lage nach dem Zweiten Weltkrieg als Gleiches an die Seite gestellt. Das soll hier aber nicht weiter vertieft werden, vielmehr soll ein kurzer erinnernder Blick auf das geworfen werden, was in den Jahren ab 1945 hier wie in großen Teilen Deutschlands westlich von Oder und Neiße zu bewältigen war.

Und dies vorweg: es ist wie allenthalben in Deutschland eine grandiose erste Hilfe und anschließende Integrationsleistung gelungen. Die Vertriebenen wurden trotz großer kriegsbedingter eigener Probleme der einheimischen Bevölkerung mit den elementaren Dingen des Alltags wie Unterbringung, Kleidung und Ernährung versorgt, sie wurden, wenn auch in einer jahrelangen Entwicklung, nahezu vollkommen integriert. Nach den bedrückenden Fluchtbewegungen im Zuge des Vormarsches der Roten Armee im Osten des Deutschen Reiches folgte nach dem Kriegsende 1945 die systematische Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostprovinzen, aus Ostpreußen, Pommern Schlesien, außerdem der Sudetendeutschen und unzähliger Bewohner aus vielen anderen Ländern. Bis 1950 kamen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches 6.944.000 Flüchtlinge und Vertriebene, aus der Tschechoslowakei 2.921.000, aus anderen Ländern 1.865.000, insgesamt 11.730.000 Menschen (Quelle: Wikipedia).

Dank des soliden Zahlenmaterials, das der verdiente ehemalige Kreisstatistiker Norbert Hinner aufgearbeitet hat, sind wir auch gut über die quantitativen Gegebenheiten des Kreises Kempen-Krefeld unterrichtet. Bei der Erfassung der Wohnbevölkerung des Kreises im September 1950 wurden bezogen auf die heutigen politischen Gemeinden folgende Vertriebenenzahlen festgestellt (in Klammern der prozentuale Anteil an der Gesamtbevölkerung): Brüggen 1107 (12,7 Prozent), Grefrath l578 (12,9), Kempen 3807 (12,3, Nettetal 4231 (14,5), Schwalmtal 1698 (13,4), Tönisvorst 2249 (13,5), Viersen 6342 (8,9), Willich 3719 (13). Insgesamt also waren im Jahre 1950 im Kreis 24.731 Bewohner Heimatvertriebene, mit 11,8 Prozent mehr als jeder Zehnte (vgl. Heimatbuch 1974, S. 140).

Hinter diesen nackten Zahlen stand zigtausendfache individuelle Not und erbitterter Überlebenskampf. Dazu kam das Gefühl der Fremdheit, das durch die meist andere Konfession der niederrheinischen Mehrheitsbevölkerung und durch die Nichtbeherrschung der hierzulande vielfach noch die allgemeine Kommunikation prägenden plattdeutschen Sprache verstärkt wurde.

Der Bäckermeister Lambert Maassen, später langjähriger Landrat des Kreises Kempen-Krefeld und zunächst Bürgermeister der vom Krieg arg gebeutelten Grenzstadt Kaldenkirchen, war jemand, der mit den Nazis nichts am Hut gehabt hatte. Das muss man wissen, wenn man liest, mit welchen Worten er vor genau 70 Jahren im Oktober 1945 auf Weisung der britischen Militärregierung detailliert festhielt, welche und wie viele Kleidungsstücke von den Einwohnern Kaldenkirchens für die Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen waren: unter anderem. 1484 Stück Männerkleidung, 553 Stück Frauenkleidung und 4373 Stück Kinderkleidung.

Seine Forderung schloss er unter Anwendung ehemaliger Naziterminologie mit dem Aufruf "Helft also notleidenden deutschen Volksgenossen". Dem ging eine unverhohlene Drohung voraus: "Die Bürger tun gut daran, alle nur irgendwie entbehrlichen Stücke in annehmbarem Zustand abzugeben. Wird die geforderte Abgabe von Kaldenkirchen in voller Höhe nicht geleistet, so haben wir mit der Durchsuchung aller Häuser durch Besatzungstruppen zu rechnen."

Im ersten Heimatbuch des Kreises von 1950 wurde geschildert, wie viel Innovation von den Vertriebenen auch auf wirtschaftlichem Gebiet in die neue Heimat gebracht wurde. Auch kulturell wurde der Kreis vielfältiger. Der Bericht endete mit den Sätzen: "Die Hoffnung, in die alte Heimat einmal zurückkehren zu können, geben sie nicht auf. Bis dahin wollen sie in der neuen Heimat voll und ganz ihren Mann stehen". Aus der Rückkehr wurde bekanntlich nichts und inzwischen leben sie in dritter, vierter oder fünfter Generation im Kreis und stellen eine längst mit der übrigen Bevölkerung verwachsene Gemeinschaft dar.

(prof)
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