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Stadt Kempen Gräber gegen das Vergessen

Stadt Kempen · Ausflugsziele der etwas anderen Art sind die jüdischen Friedhöfe in Kempen, Willich und Tönisvorst. Wegen seiner gut überlieferten Geschichte wird hier das Gräberfeld in Kempen vorgestellt.

 Das Grab eines Rabbis auf dem jüdischen Friedhof am Grünkesweg in Kempen.

Das Grab eines Rabbis auf dem jüdischen Friedhof am Grünkesweg in Kempen.

Foto: Kaiser

Dies hier ist Kempens zweiter Judenfriedhof. Wo der erste gelegen hat, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass es in Kempen im Mittelalter schon einmal eine Judengemeinde gegeben hat, die auch einen Friedhof gehabt haben muss. Zuverlässige Chroniken berichten, dass im Sommer 1288 in Kempen zwölf erwachsene Juden und mehrere Kinder umgebracht wurden, mindestens einer starb für seinen Glauben auf dem Scheiterhaufen. Wenige Jahre später erhielt der aufstrebende Ort seine Stadtrechte.

 Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof am Rabenweg in Schiefbahn.

Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof am Rabenweg in Schiefbahn.

Foto: Kaiser, Wolfgang (wka)

Nach weiteren Pogromen verließen die Juden gegen Ende des 14. Jahrhunderts die Stadt, und nur ein Name blieb: Die Judenstraße, wo die Geflohenen ihre Läden hatten. Erst als 1794 die französische Revolutionsarmee unter der Parole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" den Niederrhein besetzte, kehrten die ersten wieder zurück, und bald entwickelte sich eine blühende jüdische Gemeinde. Die kaufte am 4. April 1809 im Süden der Stadt ein Stück Ödland zur Anlegung eines jüdischen Friedhofs. Das sollte man wissen, wenn man die Gräberstätte heute betritt: Es ist ein Ort der Stille, der zum Gedenken mahnt.

 Der Grabstein der jüdischen Familie Lambertz in Kempen.

Der Grabstein der jüdischen Familie Lambertz in Kempen.

Foto: Kaiser, Wolfgang (wka)

Unter Eichen und Hainbuchen ragen 93 Grabsteine auf, von 1845 bis 1939 errichtet, davon sind 19 im November 1968 von Oedt hierhin gebracht worden. Männer sollten hier immer eine Kopfbedeckung tragen. Nach jüdischer Sitte sind Blumen hier nicht üblich. In der jüdischen Bevölkerung sagt man: "Blumen erfreuen besser die Lebenden." Besucher hinterlassen höchstens einen kleinen Stein auf dem Grabmal. Damit erweitert man symbolisch den Grabstein und gibt dem Toten, den man kennt, eine Ehrenbezeugung. Zur Herkunft dieses Brauchs: Als das jüdische Volk vor den Ägyptern floh, musste es die steinige Wüste des Sinai durchqueren; diejenigen, die den Strapazen erlegen waren, begrub man dort unter Steinen.

Es gibt aber immer mehr Juden, die Blumen auf die Gräber legen. Normalerweise gibt es im Judentum keine spezielle Grabpflege wie bei den Christen. Den Grabstein stellt man erst am ersten Todestag auf. Ein jüdisches Grab ist ein so genanntes "ewiges Grab". Das heißt, die Toten bleiben, wie es in der Bibel vorgeschrieben ist, bis zum jüngsten Tag darin liegen.

Der Friedhof ist im Besitz des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein mit Sitz in Düsseldorf und wird durch die Stadt Kempen gepflegt. Die Steine sind im Januar/Februar 2009 durch den Kempener Steinmetzmeister Manfred Messing behutsam restauriert worden. Der verfallene Charakter sollte bewahrt werden.

Besuchen wir einige Gräber und erfahren von den Schicksalen der Menschen, denen sie gewidmet sind. Einer, der damals von weither in das französisch verwaltete Kempen gekommen ist, war Salomon Kounen. 1776 geboren, ist er aus Neu-Sablitz in Böhmen an den Niederrhein gewandert. In Kempen hatte er an der Ellenstraße ein Geschäft als Geldwechsler. Geld war knapp damals, vor allem Kleingeld, und in den einzelnen deutschen Kleinstaaten gab es verschiedene Währungen. Oft hatte man nicht die passende Münze. Salomon Kounen machte ein Geschäft daraus. Er wechselte, wenn jemand Kleingeld brauchte, einen Taler in 100 Heller ein und behielt als Honorar einen Teil, zum Beispiel zehn Heller. Zwei segnende Hände dienen auf seinem Grabstein als Priestersymbol: Bei den jüdischen Gottesdiensten hat Salomon Kounen aus der Thora vorgelesen, der jüdischen "Bibel", die die fünf Bücher Moses enthält. 1845 ist er verstorben.

Das beste Beispiel für den sozialen Aufstieg, der sich seit der Wiederansiedlung der Juden um 1800 vollzogen hat, ist der Kaufmann Isaak Kounen. Er wurde am 30. September 1810 als Sohn von Samuel Kounen geboren und war die bedeutendste jüdische Persönlichkeit in Kempen des 19. Jahrhunderts. Seine Beliebtheit speiste sich aus drei Quellen: Wirtschaftlicher Erfolg, politische Aktivität, soziales Engagement. Bereits 1837 war er Inhaber einer Seidenfabrik, also einer der Vorreiter der Industrialisierung in Kempen. Er zählte zu den höchst besteuerten Bürgern der Stadt und begründete zahlreiche Stiftungen zur Unterstützung hilfsbedürftiger Bürger - auch christlicher Bürger. Viele Jahre hindurch war er im Vorstand der Synagogengemeinde, zu dessen Vorsitzendem er wie selbstverständlich gewählt worden war.

Damit nicht genug, sprang er als Religionslehrer für die jüdischen Kinder ein. Er wirkte - nachdem das "Judengesetz" von 1847 das möglich gemacht hatte - als Mitglied des Stadtrats und seiner wichtigsten Ausschüsse, saß aber auch in der Gladbacher Handelskammer. Ihm wird das Haus Buttermarkt 2 (heute Kempener Bastelstudio) zugeschrieben; in ihm soll er auch gewohnt haben. Seit 2012 ist an der Kreuzkapelle ein Straßenname nach ihm genannt.

In die Zeit nationalsozialistischer Verfolgung führt uns das Grab des Viehhändlers Emil Winter, der einen Bauernhof an der Neustraße 1 besaß. Im ersten Weltkrieg zum Feldwebel befördert und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet,wurde er am 10. November 1938, als in ganz Deutschland die Synagogen brannten, in Kempen mit den anderen männlichen Juden verhaftet und in das Anrather Zuchthaus gebracht. Er erkrankte und verstarb im jüdischen Krankenhaus in Köln am 16. November 1939. Dies hier ist ein Gedenkstein, errichtet auf Initiative seines Neffen Artur Winter, der in Schweden Material über den Holocaust der Kempener Juden zusammenstellte.

Weitere Gedenksteine wurden von Nachfahren für andere Holocaust-Opfer erstellt: Siegmund Winter (78) starb in Theresienstadt, woraufhin seine behinderte Tochter Carola, die ihn pflegte, nach Auschwitz ins Gas gebracht wurde. Wilhelmine Mendel konnte wegen ihrer Neurasthenie im Ghetto von Riga nicht arbeiten und erstickte im abgedichteten Laderaum eines Gas-Lastwagens. Ihr Bruder Siegfried emigrierte nach Belgien, dann nach Südfrankreich und starb in Auschwitz. Max Mendel aus St. Hubert wurde von Nachbarn denunziert und nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er kurz nach seiner Ankunft am 16. April 1943 in die Gaskammer gebracht. Der Schlüssel zum Besuch des Kempener Judenfriedhofs ist auf Anfrage beim Grünflächenamt der Stadt Kempen erhältlich (Ruf 917364).

(hk)
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