Stadt Kempen Eine Stadtführung der anderen Art

Stadt Kempen · Mit ihren reichen historischen Zeugnissen wird Kempens Altstadt unterschiedlichen Besuchergruppen gerecht. Hier der Bericht über eine Zeitreise ins Mittelalter mit einer ganz besonderen Gruppe.

 Der Historiker Dr. Hans Kaiser (vorne links) erläuterte beim Stadtrundgang mit den Behinderten des HPZ in St. Tönis und deren Betreuern auch die Geschichte der Kempener Burg.

Der Historiker Dr. Hans Kaiser (vorne links) erläuterte beim Stadtrundgang mit den Behinderten des HPZ in St. Tönis und deren Betreuern auch die Geschichte der Kempener Burg.

Foto: Wolfgang Kaiser

"Gibt es die Folterkammer noch?" fragt Vanessa. Die 33-jährige Frau steht mit neun anderen Stadtrundgängern vor dem östlichen Burgturm. Gerade hat ihnen der Kempener Historiker Dr. Hans Kaiser vom Schicksal einer Frau erzählt, die in diesem Turm zu Tode gefoltert wurde: Sibilla This aus St. Hubert. Ihr Nachbar hatte sie beschuldigt, seine Pferde durch Zauber getötet zu haben. Sibilla, gemeinhin Beel genannt, kam auf die Streckbank - und starb dort. "Kreislaufkollaps? Schlaganfall?" fragt Kaiser und fährt fort: "Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Sibilla oder Beel in ihrer Not die verrücktesten Geschichten erzählte, nur, damit der furchtbare Schmerz aufhörte. So berichtete sie, wie sie mit anderen Hexen aus dem Kempener Land durch die Luft zum Hülser Berg geflogen sei, wie sie dort an einem Hexensabbat teilgenommen habe."

Nein, die Folterkammer gibt es nicht mehr, nur ein ausführliches Protokoll über das grausame Verhör hat sich erhalten. Eine Weile stehen die Teilnehmer am Stadtrundgang da und lassen das Gehörte auf sich wirken. "Leben im Mittelalter" ist das Thema dieses Rundgangs durch die Kempener Altstadt.

Es ist ein Rundgang der besonderen Art. Seine Teilnehmer, zwischen 26 und 46 Jahre alt, kommen aus dem Heilpädagogischen Zentrum in St. Tönis, wo sie in der Werkstatt "Impuls" arbeiten. Ihre Lebensläufe sind ganz unterschiedlich. Ehemalige Förderschüler ohne Berufserfahrung sind dabei, aber auch ein langjähriger Geschichts- und Soziologiestudent, der wegen einer erheblichen Sprachstörung sein Studium nicht abschließen konnte. Allen gemeinsam aber ist eine große Bereitschaft, Interesse aufzubringen und bei dieser Führung Neues zu erfahren. "Es war die freundlichste und motivierteste Gruppe, die ich in 35 Jahren als Stadtführer erlebt habe", wird Kaiser später sagen.

Vor dem Fachwerkhäuschen Tiefstraße 28 hält die Gruppe wieder an. "Hier habt ihr Mittelalter pur", sagt Kaiser. Das Gebäude stammt aus dem 16. Jahrhundert. Drei Jahre lang - von 1991 bis 1994 - hat ein Profi es in seinen ursprünglichen Zustand zurückgebaut: Dr. Heinz-Peter Mielke, damals Leiter des Niederrheinischen Freilichtmuseums Dorenburg in Grefrath. Nur muss man sich die gläsernen Fensterscheiben wegdenken, denn Glas war damals Luxus. Die kleinen, fast quadratischen Fensteröffnungen waren mit dünner Leinwand, Pergament oder Tierblasen verkleidet.

Warum die Fenster so klein waren? Man wollte im Winter möglichst wenig von der kostbaren Wärme verlieren. Deren einzige Quelle war nämlich das offene Feuer in der mit Kieselsteinen belegten Küche, was den Rundgang-Teilnehmer Francisco (41) zu der Bemerkung veranlasst: "Das muss aber die Lunge angegriffen haben." "Stimmt", sagt Kaiser. Und fährt fort: "Wenn man einander im Winter besuchte, kroch man gerne ins Bett des Gastgebers, um sich dort mollig-warm zu unterhalten." Morgens aber leerte die Hausfrau aus dem Fenster der Schlafkammer im ersten Stock den Ledereimer auf die Straße aus, den die mehrköpfige Familie die Nacht hindurch "besessen" hatte. Und der Unrat sickerte in die Rinne, die damals in der Mitte einer jeden Straße das Abwasser aufnahm - das ist hier an der Tiefstraße noch gut zu erkennen - und floss in ihr ganz langsam hinunter in den inneren Stadtgraben. Der war eine große Kloake. Kein Wunder, dass immer wieder Epidemien auftraten, die viele Menschen dahin rafften.

So war die Angst vor dem Tod und vor dem Teufel, an den man ganz wörtlich glaubte, allgegenwärtig, vor allem aber: Davor, was nach dem Tode geschehen würde.

Das zeigt sich in der Kempener Propsteikirche, die die Gruppe zum Schluss mit einem Suchspiel erkundet. Hier haben Kempener Bürger, die in Bruderschaften oder Zünften zusammengeschlossen waren, im Mittelalter zahlreiche Altäre gestiftet. Von denen war jeder einem Heiligen geweiht, von dem man eine besondere Hilfe und Fürsprache in den Beschwernissen des Lebens erhoffte. Mehrere dieser Altäre waren zum Unterhalt eines Priesters bestimmt, der nichts anderes zu tun hatte, als an ihnen eine festgelegte Zahl von Wochenmessen für das Seelenheil der Stifter und ihrer Familien zu zelebrieren. Denn vor dem Fegefeuer, das die Seelen der Verstorbenen vor dem Eintritt ins Paradies läutern sollte, empfand jeder Angst, und erst recht vor der ewigen Verdammnis in der Hölle. Kaisers Bilanz: "Das Leben war nicht leicht. Aber man ertrug es im Glauben an die göttliche Fügung und - weil man es sich anders nicht vorstellen konnte".

(hk-)
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