Serie Vor 107 Jahren Eine neue evangelische Kirche

Kempen · Warum hatten es die Evangelischen in Kempen vor 107 Jahren so schwer? Die Antwort liegt im Hin und Her der Geschichte. Vor 450 Jahren - um 1570 - war die aufgeschlossene, an theologischen Fragen brennend interessierte Stadt ein Zentrum der Reformation am Niederrhein. Bereits 1525, acht Jahre, nachdem Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen verkündete, hat es hier Evangelische gegeben, 17 Jahre früher als in Krefeld.

 Auf dem Hof des Eckhauses Burgstraße/Engerstraße wurde 1846 das erste evangelische Kirchlein in Kempen eingeweiht. Zu erkennen sind hier nur seine dreifenstrige Fassade zur Burgstraße und seine Turmspitze.

Auf dem Hof des Eckhauses Burgstraße/Engerstraße wurde 1846 das erste evangelische Kirchlein in Kempen eingeweiht. Zu erkennen sind hier nur seine dreifenstrige Fassade zur Burgstraße und seine Turmspitze.

Foto: Kreisheimatbuch 1979

kempen Um 1570 ist die Kempener Führungsschicht großenteils evangelisch. Aber dann setzt 1608 eine katholische Gegenreformation ein, die die reformierten Einwohner meist unter Zwang zum katholischen Glauben zurückbringt oder sie aus dem Land vertreibt. Zahlreiche Evangelische, geschäftstüchtige Kaufleute und geschickte Handwerker, machen sich im Exil um die Wirtschaft verdient, während in Kempen eine Jahrhunderte alte Tradition von Handwerk, Handel und Gewerbe einbricht und die Stadt ihre Aufgeschlossenheit für neue Impulse verliert. Resultat: Kempen, einst geistiges und wirtschaftliches Zentrum zwischen Rhein und Niers, blieb ein Ackerstädtchen lange ins 19. Jahrhundert hinein und wurde von seiner toleranteren Nachbarstadt Krefeld weit überflügelt.

Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts gelingt die Neugründung der evangelischen Gemeinde. Eingeleitet wird sie 1845 durch eine vom Viersener Superintendenten einberufene Versammlung von 19 Kempenern; sie beschließen die regelmäßige Abhaltung eines Gottesdienstes noch in Privathäusern. Das ist der erste Schritt auf einem mühsamen Weg, gekennzeichnet durch die Belastungen der Diaspora. Erst die Spenden verschiedener evangelischer Hilfsorganisationen ermöglichen 1846 den Bau des ersten Kirchleins Ecke Burg- und Engerstraße. Eine Säule dieser jungen zweiten Gemeinde sind Beamte, die aus dem rechtsrheinischen Gebiet und dem evangelischen Alt-Preußen zur Kempener Kreisverwaltung versetzt worden sind. Ihre Zahl verstärkt sich durch den Zuzug von Bahnbediensteten nach der Eröffnung von drei Eisenbahnlinien 1863, 1868 und 1872.

Der entscheidende Durchbruch erfolgt, als am 3. Oktober 1901 in Kempen die Eisenmöbel produzierende Firma L. &. C. Arnold an der Bahnlinie ihren Betrieb startet. Ihr Mutterwerk liegt im schwäbischen Schorndorf, von wo das Unternehmen einen Teil seiner Arbeiterschaft mitgebracht hat. Von den etwa 85 Arnold-Arbeitern kommen ca. 35 aus Württemberg. Sie sind durchweg evangelisch, meist vom Pietismus beeinflusst, das heißt, vom Streben nach wahrer, inniger Frömmigkeit. Auch ihr Firmenchef Carl Arnold ist praktizierender evangelischer Christ. Mit den Familienangehörigen stellt der Zuzug für die evangelische Gemeinde Kempen eine Vergrößerung um mehr als 80 Mitglieder dar. Die katholische Bevölkerungsmehrheit sieht die Fremden mit der anderen Konfession nicht so gerne. Als 1903 der Besitzer der 1962 abgebrannten Gaststätte Königsburg am Donkring 2, Josef Peters, den Schwaben eine Weihnachtsfeier in seinem Saal ermöglicht, kündigen die Kempener Vereine ihm postwendend die Kundschaft.

 So sah der Altarraum der Thomaskirche 1910 aus. Er wurde 1960 modernisiert und Anfang der 1970er-Jahre durch die heutige Gestaltung ersetzt.

So sah der Altarraum der Thomaskirche 1910 aus. Er wurde 1960 modernisiert und Anfang der 1970er-Jahre durch die heutige Gestaltung ersetzt.

Foto: Evangelische Kirchengemeinde

Der Zuzug der Württemberger überfordert endgültig die räumlichen Möglichkeiten der ersten Kirche. 1909 ist die Seelenzahl der Kempener Gemeinde von 200 in 1880 auf 750 Personen gestiegen. Der düstere Kapellenraum an der Ecke Burg- und Engerstraße wird mehr und mehr zum Gespött der Leute. Ein neues Gotteshaus ist überfällig. - Schon in den neunziger Jahren hat die Gemeinde angefangen, mit Hilfe des Gustav-Adolf-Vereins einen Fonds zum Kauf eines Kirchengrundstücks zu bilden. Zuletzt fließen jährlich 2100 Mark hinein: Eine fromme Bausparkasse. Firmenchef Carl Arnold ist zum Presbyter gewählt worden und tut großzügige Spenden dazu.

Am 3. März 1903 ersteigert im Auftrag von Pfarrer Ernst Roeber der Diakon der evangelischen Gemeinde, Heinrich Hoffmann, Stationsassistent am Kempener Bahnhof, die "Hüskes Scheune", ein Zwei-Morgen-Areal an der Ecke Wachtendonker/Aldekerker Straße. Zum Schein tut er das in eigener Sache, denn im stockkatholischen Kempen ist Widerstand gegen den Bau einer neuen, großen evangelischen Kirche abzusehen. In der Tat: Drei Tage nach der Versteigerung versucht Kempens Beigeordneter Heinrich Herfeldt, den Grundstückskauf rückgängig zu machen und behauptet, die Evangelische Gemeinde hätte die erforderliche Genehmigung nicht eingeholt. Was er verschweigt: Eine solche Genehmigung ist nur vorgeschrieben, wenn die Gemeinde auf der anzukaufenden Immobilie eine Hypothek liegen hat, die sie durch den Ankauf sichern will. Herfeldt hat nur geblufft. Es kann gebaut werden.

Auf dem Grundstück entsteht in der Formensprache der Neo-Renaissance eine dreischiffige Backsteinkirche mit hellfarbigen Werksteindetails. Großenteils Kempener Handwerker werden mit den Gewerken beauftragt: Der Bauunternehmer Heinrich Schmitz, Großvater des heutigen Firmenchefs Ralf Schmitz, mit der Ausführung sämtlicher Maurer-, Zimmerer- und Dachdeckerarbeiten; die Firma Johann Kiefer mit der Gas- und Wasserinstallation; Schreinermeister Christian Büskens mit der Herstellung der Kirchenbänke und der Treppen; die Anstreicherfirma Jakob van Lin mit dem Streichen der Bänke. Anstrich und Ausmalung des Innenraumes übernimmt jedoch die Firma Warg aus Krefeld.

Bereits am 25. April 1909 wird der Grundstein zum neuen Gotteshaus gelegt. Bei der anschließenden Feier in der Königsburg widmet einer der beiden Festredner - Pfarrer Franz Zillessen aus Lobberich - vier berühmten Persönlichkeiten der Religionsgeschichte jeweils einen Palmenzweig. Einen davon eignet er Thomas von Kempen zu, einem Vorläufer der Reformation. Thomas, der nach einem Weg gesucht hat, Christus nachzufolgen. Ein Vorgriff darauf, dass die Kirche, die über diesem Grundstein erwachsen wird, 76 Jahre später "Thomaskirche" getauft werden wird.

Im September 1909 treffen die Glocken ein. Ihr erstes Läuten gilt einem Grab - eines Menschen, der mit der Gemeinde besonders eng verbunden ist. Mathilde Dorothea Roeber, die Pfarrersfrau, ist schwer erkrankt. Am 26. April 1910 verstirbt sie, 68 Jahre alt. So rufen die Glocken mit ihrem Läuten den Abschiedsgruß für eine Frau, die, so heißt es in der Pfarrchronik, "sich so treu um den Kirchbau gesorgt und sich gemüht hat, mit der Gemeinde Freud und Leid alle Zeit zu tragen."

Ein gutes Jahr nach der Grundsteinlegung, am 17. Juli 1910, schreitet die Gemeinde zur Einweihungsfeier. Viele katholische Kempener, vor allem in der Nachbarschaft, haben zu Ehren der neuen Kirche ihre Häuser beflaggt.

Am guten Ton soll es dem neuen Gebäude nicht fehlen. Zwar verfügen die meisten evangelischen Kirchen in der Diaspora nur über ein bescheidenes Harmonium; die Kempener Kirche indes erhält eine für die damalige Zeit bemerkenswert gute, wenn auch kleine Orgel der Firma Paul Faust in Schwelm, und am Einweihungstag zieht Musikdirektor Hans Gelbke aus Gladbach mit Bachscher Musik die neuen Register. Die Weihe der Kirche vollzieht geistliche und weltliche Prominenz: Der "Geheime Konsistorialrat" Bergmann ist da als Vertreter des Konsistoriums, der kirchlichen Verwaltungsbehörde der preußischen Regierung für die evangelische Kirche im Rheinland. Er wünscht den Evangelischen in Kempen alles Gute für die Zukunft, und das tut auch Superintendent Theodor Bungeroth im Namen der Kreissynode, des Vertretungsorgans der evangelischen Geistlichen im Kirchenkreis Mönchengladbach. Anders äußert sich Pfarrer Dr. Albert Hackenberg, der für die Provinzial-Synode gekommen ist, für das Vertretungsorgan der Geistlichen in der ganzen preußischen Rheinprovinz. Hackenberg spricht von der vielfachen Knechtung der evangelischen Kirche am Niederrhein. Damit, so meinen einige Zuhörer, reiße Hackenberg eine Wunde auf, die man schon geschlossen glaubte. Doch verweist der Synodale auf Thomas von Kempen als Garanten der Gemeinsamkeit beider Konfessionen in Kempen.

Wer die Vorgänge um Bau, Grundsteinlegung und Einweihung detaillierter als hier dargestellt nachlesen möchte, sei verwiesen auf die Festschrift "100 Jahre Thomaskirche", herausgegeben 2010, erhältlich im Pfarrbüro, Kerkener Straße 13 (Öffnungszeiten dienstags bis donnerstags jeweils von 10 bis 12 Uhr).

In der nächsten Folge: Die zweite Juden-Deportation

(hk-)
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