Serie: Zeitzeugen berichten vom Krieg (3) Eine Frage der Menschenwürde

Kempen · In einer RP-Serie berichten Zeitzeugen über die Zeit des Zweiten Weltkriegs und das Kriegsende in Kempen. In dieser Folge geht es um das Schicksal der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter.

Während des Zweiten Weltkrieges sind im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten zwischen sieben und elf Millionen Menschen der Zwangsarbeit unterworfen gewesen. Ohne die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft hätte man die Kriegsmaschinerie nicht am Laufen halten können. Zumindest wurde dadurch der deutschen Bevölkerung, vor allem den Frauen, ein massiver Arbeitseinsatz erspart.

Mitte März 1940 treffen die ersten polnischen Kriegsgefangenen in Kempen ein, im Juli französische Gefangene, im Sommer 1941 jugoslawische, 1943 Italiener. Um den Nachschub an Arbeitskräften für Rüstung und Landwirtschaft zu decken, werden bald auch Zivilarbeiter aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten "angeworben" - auch unter Mitwirkung des Kempener Arbeitsamts. So werden aus der Ukraine, aus Polen, Frankreich und den Niederlanden Frauen, manche mit ihren Kindern, und Männer zum Arbeitseinsatz nach Kempen gebracht. 13 Lager für Kriegsgefangene und "Fremdarbeiter" hat es im Gebiet der heutigen Stadt Kempen gegeben: von der evangelischen Volksschule Wachtendonker Straße, die seit 1939 als provisorische Turnhalle diente, über den Tanzsaal im Obergeschoss der Gaststätte Louven in St. Hubert bis zum Lager an der Vinnbrück in Tönisberg.

Bei der Behandlung der ausländischen Arbeiter spielt die NS-Rassenideologie eine wichtige Rolle. Auf die unterste Stufe werden Menschen "slawischer Abkunft" gestellt, das heißt, die Polen und vor allem die Sowjetrussen. Sie gelten als "rassisch minderwertig". Bereits 1940 müssen die Polen ein "P" an der Kleidung haben; es ist die erste öffentliche Kennzeichnung von Menschen im "Dritten Reich". Arbeiter aus der Ukraine tragen ein Abzeichen mit der Aufschrift "Ost".

Die meisten Ausländer arbeiten auf Bauernhöfen. Oft wohnen sie dort in den unbeheizten Torhäusern. Gibt es Probleme mit ihnen, macht man nicht viel Federlesens. "Wenn es nottut, sollen sich die Gendarmen nicht scheuen, mit körperlicher Züchtigung vorzugehen", ordnet ein Rundschreiben der Ordnungspolizei vom 23. Juli 1942 an. "Auch durch Verabreichung einer angemessenen Zahl von Stockhieben."

Um die Ausbeutung der Fremden zu sichern, hat die NS-Arbeitspolitik die Vorbehalte der Deutschen, die bis dahin Ausländer kaum kannten, durch ihre Propaganda kräftig geschürt. Vereinzelt hatte das konkrete Folgen. Zeitzeugen wie Ernst Rohlof berichten, dass es einige Bauern gab, die ihre polnischen "Fremdarbeiter" hungern ließen. Auf der anderen Seite kam es nach dem Krieg in Schmalbroich, Unterweiden, St. Hubert und Tönisberg zu Ausschreitungen durch befreite "Ostarbeiter", zu zahlreichen Überfällen auf Bauernhöfe, in einigen Fällen auch zur Ermordung deutscher Einwohner. Was davon als Racheakt, was als schlicht kriminelles Handeln zu werten ist, kann heute nicht mehr entschieden werden.

Von den offiziellen Dienststellen wird der deutschen Bevölkerung eingeschärft, dass sie zu den Fremden Abstand halten solle. Aber es hat Einwohner gegeben, deren Mitmenschlichkeit der NS-Propaganda standhielt. Wie die Witwe Agnes Kleinmanns, Bäuerin auf dem Hof Unterweiden 64. Sie lädt regelmäßig vier Ukrainer - es sind Brüder - zum Mittagessen. Das kriegt der Unterweidener NS-Zellenleiter mit, der Bahnbeamte Bernhard Klaaßen, und er stellt Agnes Kleinmanns zur Rede. Wilhelm Falk hat ihre Antwort mitgeteilt: "Ich hab' auch vier Söhne im Krieg, und ich hoffe, dass die da draußen genauso behandelt werden." Aber der Nazi zeigt sich uneinsichtig, und die Bäuerin erhält eine Verwarnung.

Ein anderes Beispiel ist der Kempener Metzgermeister Ludwig Hubbertz. Über ihn hat seine Schwiegertochter Mia Hubbertz das Folgende berichtet: Jeden Morgen sieht der Metzger, wie polnische Kriegsgefangene zur Sauerkrautfabrik Steves (gegenüber von seiner Metzgerei) gebracht werden. Er hat Mitleid mit den ausgehungerten Gestalten und legt ihnen heimlich Würste unter den Deckel seiner Abfalltonne, obwohl Nachbarn ihn wiederholt bei der NSDAP denunzieren. Auch den polnischen Zwangsarbeitern, die den Müll abfahren, legt er seine Würstchen unter den Deckel.

Aus der Sicht der Denunzianten ist die Sache klar: Die Polen haben gegen Deutschland gekämpft, sind also "Feinde des Reiches". Sie bekommen das als Nahrung, was ihnen als Kriegsgefangenen zusteht. Die Würste hingegen sind "Volksvermögen"; sie werden dringend gebraucht, um die Bevölkerung in ihrem Kampf an der Heimatfront bei Kräften zu halten. So zeigen sie den Metzger an; aber bestraft wird der nicht.

Streng bestraft werden dagegen Kontakte der "Slawen" mit deutschen Frauen. Aus der Sicht der NS-Rassenpolitik gilt das als "Rassenschande". Drei Polen werden wegen ihrer Beziehungen zu deutschen Frauen hingerichtet: Marian Kurzawa (27), Czeslaw Macijewski (26) und Edward Nizio (28). Als Czeslaw Macijewski am 25. Oktober 1941 in der Nähe von Haus Velde im Voescher Wald gehenkt wird, müssen 180 Polen, die man aus der Nachbarschaft hierhin gezwungen hat, das Sterben ihres Landsmanns verfolgen. Im Gemüsebaubetrieb Maria und Jakob Menskes, Krefelder Weg 9, arbeitet damals der 18-jährige Pole Stanislas. Nachdem er von der Hinrichtung zurückgekommen ist, so hat Mia Hubbertz berichtet, muss er sich mehrfach übergeben.

In Unterweiden wohnt damals der Leiter der Kempener Landwirtschaftsschule, Dr. Franz Hardt. Anders als die meisten seiner Landsleute damals ist Hardt ein weltoffener Mann. Auf Auslandsaufenthalten in England und Frankreich hat er andere Kulturen kennen und schätzen gelernt. In unserer Region hat er den Obstbau gefördert, weil ihm die Ähnlichkeit von Boden und Klima zwischen dem berühmten Obstbaugebiet der englischen Grafschaft Kent und der Kempener Platte aufgefallen ist. Sein Sohn Herbert berichtet: "Als am 17. September 1944 britische und amerikanische Fallschirmjäger nördlich Eindhoven und bei Nimwegen abgesprungen waren, machte sich bei den Behörden am Niederrhein Panik breit. Die ,Fremdarbeiter' wurden evakuiert. Auf unserem Hof arbeiteten die Franzosen Jean Lemasson und Henri, die im Gefangenenlager in der Gaststätte Mölters untergebracht waren. Angesichts der alliierten Luftlandungen erwarteten die beiden ein baldiges Kriegsende und wollten nicht mehr auf die andere Rheinseite gebracht werden."

Was dann passiert, liest sich spannend wie ein Krimi: Als man die Unterweidener Gefangenen nachts von Mölters in Marsch setzt, richten Jean und Henri es so ein, dass sie die letzten in der Kolonne sind. Kurz danach passieren die Männer den Seldergraben, der ungefähr 300 Meter nordwestlich von Mölters durch Unterweiden läuft. Das ist die Gelegenheit! Jean und Henri tauchen in die trocken liegende, zugewachsene Wasserrinne ab, ducken sich in das Gestrüpp, und die paar Landsturmmänner, die die Gruppe bewachen, haben nichts gemerkt.

Zum Obstgut Hardt ist es von da nicht weit. Franz Hardt erlaubt den Männern, noch in der Nacht in der Nähe des Schweinestalls ein Erdloch auszuheben, mit Balken, Matten und Mist abgedeckt. Hier verstecken sie sich zwei Monate, kommen jede Nacht pünktlich um Mitternacht aus ihrem Unterschlupf, um in der Küche Essen zu empfangen. Als die Gestapo ihnen auf die Spur kommt, wird Hardt vom Landrat Jakob Odenthal gewarnt. Odenthal zeigt das zwiespältige Verhalten, das für die meisten Beamten damals kennzeichnend ist: Er setzt die Anweisungen des NS-Staates genau um, aber privat versucht er in Einzelfällen zu helfen. Damit sein Fahrer nichts merkt, stapft der Landrat persönlich zu Fuß durch die Felder, um den Schulleiter über die Nachforschungen der Gestapo zu informieren, so dass die beiden rechtzeitig weggebracht werden können. Nach dem Krieg hat Dr. Hardt seinen einstigen "Fremdarbeiter" Henri, der in Paris ein kleines Lebensmittelgeschäft aufgemacht hatte, dort häufiger besucht.

(hk)
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