Gemeinde Grefrath Ein Schneewittchenspiel für die kleine Monika

Gemeinde Grefrath · In guten und in schlechten Zeiten: Gespielt wurde immer. Auch als nach dem Krieg bittere Armut herrschte. Das Spielzeugmuseum im Niederrheinischen Freilichtmuseum Dorenburg in Grefrath zeigt, wie kreativ und erfinderisch die Not machte.

Gemeinde Grefrath: Ein Schneewittchenspiel für die kleine Monika
Foto: Kaiser, Wolfgang (wka)

Wie viele Stunden und Abende mag die Mutter von Monika an den 144 Motiven auf 72 Bilderkärtchen und an den sechs Spieltafeln gearbeitet haben? Mit Pastellkreide auf hellbrauner Pappe hat sie Szenen aus dem Märchen Schneewittchen gezeichnet. Ganz fein die blauen Holzbettchen der Zwerge, die Zipfelmützen, das Besteck, die Blumen.

Auf der Rückseite der Bilderkarten sind Gegenstände gemalt, jeweils passend zum Motiv auf der Vorderseite: Nadel und Faden für das Bild, auf dem Schneewittchen näht. Tisch, Teller und Becherchen für das Motiv, das das Haus der Zwerge zeigt. Wie ein Memory funktioniert das Spiel. Man muss die zwölf passenden Kärtchen auf der Spieltafel sammeln, um mit den Rückseiten der Bilderkarten ein komplettes Bildmotiv legen zu können.

Mit Liebe zum Detail ist das Schneewittchenspiel gemacht. In dem ebenfalls handgenähten Verpackungskarton sind sogar bunte Bänder eingearbeitet, damit Kinder die Karten leichter herausnehmen können. Unendlich viel Arbeit steckt in dem "Bilderlotto von W. Jäger", das nur eine kurze Widmung trägt: "Meiner großen Monika zu ihrem sechsten Geburtstag. Am Tegernsee 1946."

Über Umwege ist das Bilderlotto in das Freilichtmuseum Dorenburg in Grefrath gelangt. In dem Spielzeugmuseum sind rund 700 Exponate zu sehen. Die Sammlung selbst ist noch weitaus umfangreicher; sie ist Eigentum der Stiftung Lore und Wolfgang Hoffmann.

Puppen, Teddys, Bälle, Seilchen, Gesellschafts- und Rollenspiele - in der Nachkriegszeit beschäftigten sich die Kinder grundsätzlich nicht anders als zu anderen Zeiten. Den Umständen entsprechend fielen die Spiele in den Kriegs- und Nachkriegszeiten allerdings behelfsmäßig aus. Manch eine Familie versteckte während des Kriegs den Schatz des Kindes, weil sie ihn nicht auf die Flucht mitnehmen konnte. "Ich erinnere mich an eine Erzählung: Da wurde die Lieblingspuppe Ursula von der Kleinen vor der Evakuierung im Keller eingemauert", erzählt der stellvertretende Museumsleiter der Dorenburg Kevin Gröwig. 1951, als die Familie in ihr Haus zurückkam, sei Ursula unbeschadet geborgen worden. "Mit Kriegsende wurde nichts weggeschmissen", sagt Gröwig. Bisweilen mussten die Spielzeuge aus Kriegstagen allerdings "modifiziert" werden. "Ich erinnere mich an einen Transportwagen, der Hakenkreuze auf den Außenspiegeln hatte. Die Mutter hat die Spiegel einfach abgebrochen", erzählt der stellvertretende Museumsleiter.

Schwieriger wurde es in der Nachkriegszeit mit Propaganda-Spielzeugen, wie sie ebenfalls im Museum zu finden sind: das "Mensch ärgere dich nicht"-Spiel mit Hakenkreuzen oder das Wehr-Schachspiel, dessen Figuren Reichsadler und Panzer abbilden. Viele Spielsachen aber waren völlig unideologisch. "Da wurde in den Trümmern Mutter-Vater-Kind, Fußball oder Hinkelkästchen gespielt. Es wurde oft improvisiert", erzählt Gröwig.

Die Eltern von Ralf Kurth machte die Not ebenfalls erfinderisch. Sie versuchten, nach dem Krieg eine Kleiderfabrik aufzubauen. Doch Stoffe waren - wie viele Materialien - Mangelware. Aus Kleiderresten schneiderten die Kurths für ihren Sohn, der 1946 geboren wurde, zwei Stofftiere. Esel und Elefant entsprechen nicht dem Kuschel-Kulleraugen-Standard von heute. Aber Kleinkind Ralf dürfte sich kaum über den rauen Stoff beschwert haben. Immerhin hatte er überhaupt zwei Stofftiere.

Für die Herstellung neuer Spielsachen fehlten in der Nachkriegszeit vielfach die Materialien. Für die Rohstoffe gab es vordringlichere Verwendungszwecke. Spielzeug als Luxusgut hatte da keine Priorität. Zu einem Steinbaukasten aus jener Zeit gehört im Spielzeugmuseum eine Postkarte aus dem Jahr 1948: "Auf Ihre Anfrage teilen wir Ihnen mit, dass es uns bisher nicht möglich war, die notwendigen Rohstoffe für unsere Baukastenproduktion zu erhalten. Wir bedauern daher, Ihnen z.Zt. nicht liefern zu können", steht darauf.

Die Mutter von Monika hatte diese Sorge nicht: Pastellkreide, Pappkarton, Nadel, Faden und viel, viel Zeit reichten ihr. Schon im Krieg hatte sie für ihre Tochter ein Hänsel-und-Gretel-Brettspiel gebastelt. "Meiner lieben kleinen Monika zur Kriegsweihnachten 1944 von ihrer Mutter", heißt es auf dem Kasten.

Und Monika? Wie oft hat sie Bilderlotto gespielt? Ist sie an den Niederrhein gezogen? Hat sie die märchenhaften Malereien der Mutter ihren eigenen Kindern vererbt? Eines steht fest: Sie ist gut damit umgegangen. "Die Widmung ist unser einziger Anhaltspunkt. Mehr wissen wir nicht - weder über die Entstehung des Spiels noch über die talentierte Malerin und deren Tochter", sagt Gröwig.

An dem fast 70 Jahre alten Zeitdokument kann Gröwig vor allem eines ablesen: "Es zeigt einmal mehr, dass die Kinder - egal, wie schlimm die Situation war - immer gespielt haben."

(RP)
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