Serie Vor 180 Jahren Die Industrialisierung nimmt Fahrt auf

Kreis Viersen · Eine amtliche Erhebung von 1836 zeigt rasante Fortschritte. Dülken lag an der Spitze im Kreis Kempen.

Kreis Viersen Auf Statistik als Herrschaftsinstrument, auf den Wert präziser Informationen über die Lebensverhältnisse im Königreich setzten die Preußen am Niederrhein schon im 18. Jahrhundert. Davon wussten Orte im Kreis Viersen, die schon seit dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges zu Preußen gehörten (Viersen, Grefrath, Lobberich, Hinsbeck, Leuth und Tönisberg) ein Lied zu singen. Teilweise sind ihre Archive heute noch mit reichlich Datenmaterial gefüllt. Nachdem die Preußen in den Besitz des gesamten Rheinlandes gekommen waren, setzten sie die bewährte Tradition penibler Datenerhebung fort: für den heutigen Forscher eine Fundgrube.

Ein Meilenstein in der Dokumentation wirtschaftsgeschichtlicher Fakten war das Jahr 1836.

Im Februar wies der in Koblenz residierende Oberpräsident der Rheinprovinz die 60 ihm unterstehenden Landräte an, ein Verzeichnis der "in Betrieb befindlichen Fabrikanstalten aller Art" vorzulegen. Alles in allem ergab sich für den Kreis Kempen (Viersen, Willich gehörten noch nicht dazu) ein uneinheitliches Bild: für manche Orte (zum Beispiel Amern, Boisheim, Grefrath) wird überhaupt keine Fabrik genannt, andere weisen bereits einen hohen Industrialisierungsgrad auf.

Die Statistik nennt die Anzahl der Arbeiter, der fabrizierten Stücke, der Waren in Zentnern und des Wertes in Reichstalern. Freilich kamen längst nicht alle Fabrikbesitzer dem Auskunftsbegehren des tüchtigen ersten Kempener Landrates von Monschaw beziehungsweise der Bürgermeister nach. Und es wurde Wert darauf gelegt, dass die Erhebung "ohne besondere Belästigung der Eigentümer" stattfand (man stelle sich eine solche Rücksichtnahme bei heutigen Finanzämtern vor!). Besonders in Süchteln, Dülken und Waldniel gaben sich die Fabrikbesitzer mit ihren Informationen ziemlich zugeknöpft.

Absolut dominant war die Textilindustrie. Einige Beispiele: Für die Kreisstadt Kempen werden drei Plüschfabriken (Gottfried Colmes, Johann Gortsches, Josef Fischer) mit zusammen 120 Arbeitern genannt. Der Wert der dort erzeugten Produkte betrug 40.970 Reichstaler. Als Baumwoll- und halbbaumwollene Manufaktur wird die Fabrik von Blauen und Sortmanns in Kempen bezeichnet. In ihr waren 75 Arbeiter beschäftigt.

In der Grenzstadt Kaldenkirchen betrieben die Unternehmer Pönsgen und Symons Siamosenfabriken mit 250 Arbeitern. Den Wert ihrer Produkte verschwiegen sie. Die dortige Band- und Schnürriemenfabrik von Lenssen gab 60 Menschen Arbeit und Brot. In Lobberich, das einige Jahrzehnte später ein Schwerpunkt der Textilindustrie sein sollte, gab es 1836 die Baumwollfabrik Jakob und Quirin Heythausen mit 126 Arbeitern.

Die alte vormalige herzoglich-jülich'sche Stadt und Münzstätte Dülken, wo man sich zwanzig Jahre zuvor Hoffnung auf den Kreissitz gemacht hatte, hatte 1836 schon besonders viele Fabriken. Hier beschäftigten die drei Baumwollfabriken Bellingrath, Cornely und Gierlings immerhin 390 Arbeiter. Für drei Dülkener Leinenzwirnfabriken (unter anderem von Gerhard Mevissen) werden 95 Arbeiter genannt, dazu 1450 Spinnerinnen. Die Ausbildung eines Arbeiterproletariates deutet sich an.

In Süchteln stand die Industrialisierung jener in Dülken nicht nach. Insgesamt wurden nahezu 550 Fabrikarbeiter gezählt. Tonangebend waren in Süchteln die fünf Seiden- und Samtfabriken von Friedrich Wilhelm Deussen, Offermanns Erben, Peter Rath, David Binger und Salomon Cohen mit alleine 375 Arbeitern an 250 Stühlen. Von örtlicher Bedeutung waren auch die Kattunweberei Menskens in Oedt (30 Arbeiter) und schließlich die fünf Leinwandfabriken in Waldniel mit 28 Arbeitern an ebenso vielen Webstühlen. In seiner Plüschfabrik im ehemaligen Kreuzherrenkloster in Brüggen (heute Rathaus) zählte der Unternehmer Platzhoff 145 Arbeiter an 120 Stühlen.

In der Textilindustrie gab es auch die erste dampfgetriebene Anlage, und zwar in der Dülkener Leinen-zwirnfabrik Königs und Bücklers. Mehr als eineinhalb Pferdekraft wies sie allerdings noch nicht auf. Gegenüber den Daten für die frühe Textilindustrie fallen die wenigen anderen Branchen deutlich ab. Das gilt für die Topf- und Ziegelbäckereien, die in St. Hubert auf zwölf und in Tönisberg auf neun Arbeiter kamen. Die Tabakfabrik von Jakob Kirschkamp in Waldniel beschäftigte gerade einmal zwei Arbeiter, die Wachsbleicherein von Theodor Foerster, Gottfried Hoffmanns und Josef Bachmann in Kempen vier Arbeiter.

(prof)
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