Kamp-Lintfort Er liest Atlanten und Karten wie spannende Bücher

Kamp-Lintfort · Ex-Kamp-Lintforter Harald Münzner entdeckt Atlanten. Er las jetzt in der Grundschule am Niersenberg.

"Wyk, Wyk, Wyk - Alkersum, Borgsum, Dunsum, Midlum, Witsum - Wyk, Wyk, Wyk". Harald Münzer formt aus den Ortsnamen der nordfriesischen Insel Föhr ein Gedicht. Den Namen des Hauptorts Wyk lässt er wie das Quieken eines Ferkels klingen. Für den Alpener, der in Kamp-Lintfort das Gymnasium besuchte, sind Landkarten etwas höchst Lebendiges. Atlanten sind für ihn Steinbrüche, in denen er Kultur- und Literaturgeschichte entdeckt. Das gilt besonders für den großen braunen Diercke-Weltatlas von 1968, mit dem der heute 54-jährige Historiker und Politikwissenschaftler aufgewachsen ist. "Karten sind in Sprache gefasste Kultur", sagt der Kultur- und Tourismusbeauftragte der Stadt Kalkar. "Ohne Karten sind wir nicht vorstellbar. Deshalb lese ich Karten wie Bücher."

Das machte er jetzt in der Bücherkiste der Grundschule am Niersenberg. "Karten lesen - Sprachspielerische Verirrungen in alle Himmelsrichtungen" hatte er den literarischen Rezitationsabend genannt, den es einmal im Jahr in der Schülerbibliothek gibt. Münzner lotete mit Gedichten diese Himmelsrichtungen aus, "Nach Norden" zum Beispiel mit Christian Morgenstern. Oder er reist mit Goethe nach Süden, genauer nach Italien: "Kennst Du das Land, wo die Zitronen blüh'n - im dunklen Laub die Goldorangen glüh'n?" Immer wieder verglich Münzner Landkarten und Menschen. "Ein Bergrücken sieht wie ein Rückgrat aus", analysierte er vor 40 Zuschauern. "Die kleinen Flüsse, die zu großen zusammenströmen, wie Blutadern."

"Karten stimmen nie", erläuterte Münzner, als er eine Schale einer Orange zeigte, die zuvor von einer Zuschauerin entfernt wurde. "Die Schale lässt sich niemals glatt bekommen, wie die Erdkugel. Gerhard Mercator erfand deshalb die Projektion, die immer verzerrt, wie die menschliche Wahrheit." So seien Länder nördlich von Deutschland, etwa in Skandinavien, zu groß dargestellt, südliche Gegenden dagegen, etwa Afrika, zu klein.

Münzner trug auch aus Romanen vor, zum Beispiel eine Stelle über ein Kartenspiel aus der "Blechtrommel" von Günter Grass oder Episoden aus "Atlas eines ängstlichen Menschen" von Christoph Ransmayr. Außerdem ließ er von Zuschauern Karten aufhängen, in den er sprachlich fündig wurde - etwa im österreichischen Stubaital "In der Keuche" oder im "Bödele." Landkarten würden im Zeitalter von Navigation und Google Maps seltener aufgeschlagen und gelesen, meinte er. Und machte mit seinem Abend Lust, wieder mal im Atlas zu stöbern.

(RP)
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