Susanne Liebherr "Ständige Erreichbarkeit kann Stress auslösen"

Hückeswagen · Susanne Liebherr ist Coach und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Im Interview erklärt sie, wie man dem Feiertags-Blues entkommen kann.

 Susanne Liebherr ist Coach und Heilpraktikerin für Psychotherapie. In den Wintermonaten kommen viele Menschen zu ihr, die am sogenannten Feiertags-Blues leiden. Doch es gibt Auswege.

Susanne Liebherr ist Coach und Heilpraktikerin für Psychotherapie. In den Wintermonaten kommen viele Menschen zu ihr, die am sogenannten Feiertags-Blues leiden. Doch es gibt Auswege.

Foto: Wolfgang Weitzdörfer

Weihnachten ist für viele ein Familienfest, bei dem Harmonie und Freude im Vordergrund stehen sollen. Doch damit setzen sich manche Menschen auch sehr unter Druck. Dieser kann sich dann an den Feiertagen entladen.

Frau Liebherr, hatten Sie auch schon mal den sogenannten Weihnachts-Blues?

Susanne Liebherr Nein, an den Feiertagen selbst nicht. Die empfinde ich als schön, das ist ein Familienfest. Weihnachten gibt mir die Möglichkeit, Familie und Freunde zu treffen und Zeit mit ihnen zu verbringen. Ich feiere gerne Weihnachten, mache mir Gedanken über Geschenke - schenken und beschenkt werden ist doch toll. Den Blues hatte ich dagegen schon mal an Silvester. Ich war damals in einer Diskothek, ganz entgegen meiner sonstigen Vorlieben. Und um null Uhr stand ich plötzlich ganz alleine da, das war nicht nach meiner Vorstellung.

Warum fallen viele Menschen gerade an Feiertagen in Krisen?

Liebherr Vor allem die Feiertage wie etwa Weihnachten sind häufig mit hohen Erwartungen verknüpft. Man gibt sich mit dem Tannenbaum, den Geschenken, dem Essen und der Dekoration besonders viel Mühe. Man hört oft vom sogenannten Vorweihnachts-Stress. Alles wird mitgenommen, alles soll besonders sein. Dieser Stresspegel und der Erwartungsdruck sind enorm hoch. Und wenn die Erwartungen dann an den Feiertagen nicht erfüllt werden, kommt es zur Enttäuschung, die sich in Traurigkeit, Rückzug und Depression äußern können. Was man auch nicht vergessen darf: An Weihnachten kommen in vielen Fällen Menschen zusammen, die sich sonst eher selten sehen. Das kann zu Konflikten führen. Viele Menschen leben aber auch ganz alleine, was dazu führen kann, dass man sich beim "Fest der Liebe" besonders alleine fühlt.

Gibt es jahreszeitliche Unterschiede - etwa mehr Krisen zu Weihnachten als zu Ostern?

Liebherr An Weihnachten sind aus meiner Sicht mehr Menschen betroffen. Es ist ja schließlich das "Fest der Liebe", das überall betont wird. Dazu kommt, dass Weihnachten in der dunklen Jahreszeit liegt - es gibt ja das Phänomen der Winterdepression. Das fehlende Sonnenlicht sorgt für eine gedrückte Stimmung. Ostern liegt hingegen im Frühling: die Tage sind länger, die Sonne schein öfter. Dazu kommt: Ostern ist das Fester der Auferstehung und der Ostereier - nicht das Fest der Liebe.

An welchen Signalen kann man selber merken, dass man kurz vor einer Krise steht?

Liebherr Wenn man sich selbst beobachtet, kann man gewisse Merkmale erkennen: Die Stimmungslage ist gestresst, man ist schneller gereizt als sonst. Auch wenn man in Gedanken in "alten, besseren Tagen" verhaftet ist, schneller weint und insgesamt eher traurig und lustlos ist, sollte man wachsam werden.

Woran merkt es das Umfeld?

Liebherr Zum Beispiel daran, dass sich jemand zurückzieht, nicht mehr an Aktivitäten teilnimmt und schwer zu motivieren ist. Ein abweisendes Verhalten kann auch ein Signal sein, genauso wie eine insgesamt gedrückte Körpersprache: etwa ein trauriges Gesicht oder eine weinerliche Stimme.

Für den Fall, dass man diese Zeichen bei sich bemerkt: Kann man dem selbst entgegensteuern?

Liebherr Wenn man sich der eigenen Mechanismen bewusst ist, dann ja. Das heißt dann zwar nicht, dass der Feiertags-Blues nicht kommt, aber man kann ihn so abmildern oder dafür sorgen, dass man damit nicht alleine ist. Aber auch hier gilt wieder: Wer alleine ist, hat es schwerer. Dann fällt es oft erst auf, wenn man schon mitten im Blues ist. Umso schwerer wird es dann, aktiv gegenzusteuern.

Und was kann das Umfeld tun?

Liebherr Aufmerksamkeit ist sehr wichtig. Man kann mit dem Betroffenen in Kontakt treten und seine Unterstützung anbieten. Was man hingegen nicht machen sollte, ist zu versuchen, die Hilfe überzustülpen, das funktioniert in der Regel nicht. Gut wäre es, den Betroffenen in Aktivitäten einzubeziehen und ihm einfach zuzuhören. Manchmal kann auch ein Kirchenbesuch oder ein Gespräch mit einem Geistlichen helfen.

Welche Rolle spielen diesbezüglich gesellschaftliche Umwandlungen?

Liebherr Ich erlebe die Welt heute als schnelllebiger und technologisierter. Man kommuniziert wie selbstverständlich via WhatsApp oder Facebook, ist immer und überall erreichbar. Das kann innerlichen Stress auslösen. Außerdem kann man sich hinter diesen Medien gut verstecken. Im persönlichen Gespräch lassen sich Traurigkeit und Sorgen schwieriger verbergen.

Gibt es eine Altersgruppe, die besonders häufig davon betroffen ist?

Liebherr Enttäuschung und Frust aufgrund nicht erfüllter Erwartungen können in jeder Altersgruppe auftreten - vom Kind bis zu den Großeltern. Der Einsamkeits-Blues entsteht dagegen eher bei älteren Menschen. Wenn der Partner verstorben ist, kann es natürlich vorkommen, dass Trauer und Erinnerungen gerade zu Weihnachten besonders stark durchkommen. Einsamkeit ist auf jeden Fall ein wichtiger Faktor.

Und eine bestimmte soziale Schicht?

Liebherr Es ist eher eine Frage der Resilienz als der sozialen Schicht. Ich habe als sozialtherapeutische Kraft im Betreuten Wohnen sowie als Coach und als Gesprächstherapeutin gearbeitet. Einsamkeit, Trauer und Enttäuschung treffen viele Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen, unabhängig davon, wo sie sich im Leben befinden.

Welche Strategien empfehlen Sie Menschen, die schon einmal solche Erfahrungen gemacht haben?

Liebherr So verschieden die Menschen sind, so verschieden können Strategien sein. Erste Schritte für alle, die schon einmal den Feiertags-Blues hatten, sind, das Bewusstsein und der Wille, es dieses Mal anders zu machen. Vielleicht kann ein Gespräch mit Freunden oder Verwandten auch dabei helfen, eine lebbare Lösung zu finden. Eine gute Grundstrategie ist es, zu versuchen, bewusst eine Lösung oder eine Veränderung im eigenen Leben herbeizuführen.

Ab wann würden Sie sagen, dass professionelle Hilfe nötig ist?

Liebherr Immer dann, wenn die Traurigkeit in Richtung Depression geht: Wenn der Betroffene den Sinn seines Lebens zu sehr hinterfragt. Das kann sich in einem großen sozialen Rückzug äußern, Antriebslosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind zu stark. Kurz gesagt: Wenn die Unterstützung von Freunden oder Familie nicht mehr ausreicht.

Wie kann diese professionelle Hilfe aussehen?

Liebherr Im akuten Fall können die Telefonseelsorge oder geistlicher Beistand helfen, manchmal auch der Aufenthalt im geschützten Raum, etwa einer Klinik. Mittel- und langfristig kann die Aufarbeitung der Themen, die zum Feiertags-Blues führen, helfen. Das kann im Rahmen einer Therapie oder eines Coachings geschehen.

An wen können Betroffene sich dann wenden - und geht das auch während der Feiertage?

Liebherr Die Telefonseelsorge ist zu jeder Tages- und Nachtzeit unter der Nummer 0800 111 0 111 bundesweit zu erreichen. Ebenfalls rund um die Uhr erreichbar ist der ärztliche Bereitschaftsdienst, der eine schnelle psychiatrische Notversorgung gewährleisten kann. Dessen Telefonnummer ist 116 117. Dort wird man dann schnell zu den jeweilig diensthabenden Ärzten und Psychotherapeuten in der Umgebung weitergeleitet. Und ganz akut helfen natürlich auch der Rettungsdienst und die Feuerwehr unter der Rufnummer 112.

DAS INTERVIEW FÜHRTE WOLFGANG WEITZDÖRFER.

(RP)
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