Hückeswagen „Manche sind in verrohtem Zustand“

Hückeswagen · Die Übergriffe von Köln in der Silvesternacht sind auch in Hückeswagen Gesprächsthema. Kann so etwas auch im ländlichen Raum passieren? Die BM sprach darüber mit Ansgar Nowak, Leiter der Psychologischen Beratungsstelle in Wipperfürth.

Herr Nowak, sind solche Vorkommnisse, wie in der Silvesternacht in Köln, auch in Kleinstädten wie Hückeswagen möglich?

Nowak Darauf gibt's keine klare Antwort oder Entwarnung. Ich glaube, dass wir uns bisher zu wenig Gedanken gemacht haben dazu, aus welchen familiären oder persönlichen Situationen Jugendliche und junge Männer hierher kommen. Viele sind geschockt von der Flucht. Wir haben hier in der Beratungsstelle schon mit vielen Flüchtlingen zu tun — sie sind unglaublich dankbar, dass sie hier sein können. Wir haben noch keine Erfahrung gemacht, dass sie übergriffig oder grenzverletzend sind.

Was für einen familiären Hintergrund haben diese jungen Männer?

Nowak Viele dieser Männer kommen aus traditionell gewalttätigen patriarchalischen Systemen, wo der Mann einfach eine ganz andere Rolle hat als die Frau.

Woher kommen sie?

Nowak Man muss das differenzieren: Bei den Syrern erleben wir viele gebildete Leute. Wir haben aber auch — vielleicht haben wir uns da was vorgemacht — doch auch sehr viele Flüchtlinge aus einfachen und ungebildeten Schichten. In diesen spielt der Vater die Hauptrolle, und Frauen sind untergeordnet, werden versteckt, im Haus gehalten und gehören nicht in die Öffentlichkeit. Wenn diese jungen Leute dann erleben, dass sich unsere Mädchen oder jungen Frauen in der Öffentlichkeit zeigen — und auch so zeigen, wie sie das möchten —, dann ist das für sie erstmal ein Riesenbruch. Da müssen sie noch einiges lernen.

Welche Rolle spielt die Gewalt?

Nowak Die Schwelle, Gewalt anzuwenden, ist in diesen Familien sehr viel niedriger oder gehört zum Alltag dazu. Auch das ist etwas, über das die jungen Leute hier noch sehr viel lernen müssen. Bei manchen jungen Männern muss man auch von einem verrohten Zustand reden. Sie haben in der Familie oder aber auch im Bürgerkrieg gelernt: Gewalt setzt sich durch, und die Männer haben die Macht.

Ist das eine Entschuldigung für ihr Verhalten an Silvester?

Nowak Auf keinen Fall ist das eine Entschuldigung für das, was in Köln und anderen Städten passiert ist. Aber es ist eine Erklärung. Es ist wichtig, dass wir genau hinschauen, welche unglaubliche Integrationsaufgabe vor uns liegt. Diese jungen Männer haben hier eine Riesenchance, etwas zu lernen.

Müssen Polizei und Justiz anders handeln?

Nowak Es gibt momentan ja viele Diskussionen, ob unsere Polizei und Gerichte zu wenig reagiert haben. Das muss man auch sehr genau anschauen. Es ist zudem richtig, dass der juristische Umgang mit den sexuellen Übergriffen jetzt neu diskutiert wird. Da fehlen in unserem Strafrecht einfach auch einige Dinge, damit sexualisierte Gewalt viel ernster genommen wird. Es müssen deutlich mehr Möglichkeiten geschaffen werden, das zu bestrafen. Denn es ist ein Unding, dass solche massenweise sexuellen Übergriffe nach unserem Strafrecht überhaupt nicht zu bestrafen sind.

Was sollten Frauen tun, wenn sie so umzingelt und angegrapscht werden?

Nowak Der Hauptpunkt sind immer erst einmal die Täter. Sie müssen Anstand lernen und was in unserer Kultur lernen, was ein absolutes No-Go ist und wo die Grenzen sind. Für Frauen ist es wichtig, zu schauen, dass sie nicht alleine unterwegs sind. Wobei man in Köln gesehen hat, dass das nicht geholfen hat. Gegen so eine massive männliche Übermacht von alkoholisierten und unzivilisierten jungen Männern hilft dann einfach nur noch die Staatsgewalt. Es ist auch wichtig, die Situation nicht den Frauen anzulasten im Sinne von, sie hätten sich mehr wehren müssen. Das wäre ein Unding. Wir haben dieses Recht, uns frei zu zeigen. Und das gilt auch für unsere jungen Mädchen und Frauen.

Sind junge Flüchtlinge bei Ihnen in der Herbstmühle in Behandlung?

Nowak Ja, wir haben Kontakt mit minderjährigen männlichen Flüchtlingen. Sie bringen massive Traumatisierungen mit.

Was für Traumata haben diese jungen Menschen aus ihren Heimatländern mitgebracht?

Nowak Diese kommen zum Teil schon aus ihren familiären Situationen in ihrem Heimatland, verstärkt durch die Erfahrungen im Krieg und durch die Flucht. Viele der jungen Männer sind so traumatisiert, dass sie massive Auffälligkeiten haben.

Welche zum Beispiel?

Nowak Schlafstörungen — die können keine Nacht schlafen. Sie können keine Ruhe halten, weil die Bilder sie ununterbrochen einholen. Sie sind oft übernervös, angespannt und erregt und brauchen dringend Unterstützung, um innerlich psychisch zur Ruhe zu kommen.

Da dürfte einiges auf uns zukommen. Denn gibt es überhaupt so viele Psychologen, wie benötigt werden?

Nowak Im Moment noch nicht. Da steht eine große Aufgabe an. Vor allem, wenn es um langfristige Traumata-Therapien geht. Es gibt kaum Plätze dafür. Die Psychotherapeutenkammer ist aber momentan dabei, zusätzliche Stellen für Kinder- und Jugendtherapeuten zu schaffen, speziell zur Behandlung traumatisierter Flüchtlinge. Die Frage ist, wo bekommen wir die Fachleute jetzt her. Das ist nicht so einfach.

Was sind das für Jugendliche, mit denen Sie zu tun haben?

Nowak Wir haben viele Jugendliche aus Afghanistan und erleben sie durchgängig als respektvoll und freundlich. Wir haben bislang noch keinerlei Grenzverlestungen festgestellt. Aber auch diese Jungen müssen unglaublich viel lernen. Sie haben unendlich viele Fragen, wie das alles hier geht, weil sie mit so viel fremder Kultur konfrontiert werden, die zu ihren eigenen Erfahrungen diametral ist. Gerade von diesen Jugendlichen habe ich erfahren, dass ihr Frauenbild sehr traditionell geprägt ist. Sie sprechen davon, dass die Frau ein "Edelstein" ist, den man in keiner Weise beschädigen darf und schützen muss.

Welche Fragen stellen die jungen Flüchtlinge denn?

Nowak Als jetzt eine Gruppe in Köln war, gab's ein Homosexuellen-Treffen, und sie waren völlig konsterniert, was das war. Aber es ging auch um Fragen zum Weihnachtsmarkt. Was ist das? Was darf man da machen? Warum wird so viel Alkohol getrunken? Darf man das mitmachen? Wie ist das, wenn man hier abends in die Kneipen geht? Es sind viele Verhaltensfragen, die uns gestellt werden.

Das Hückeswagener Jugend- und Sozialwerk Gotteshütte hat in Wipperfürth, im Grünen und weit weg vom Stadtzentrum, ein Haus angemietet, wo es sieben junge Flüchtlinge betreut. Ist das ein Weg, um sie vor den Verführungen der Großstädte zu bewahren?

Nowak Erst mal gibt es eine gesetzliche Verpflichtung, dass wir diese minderjährigen alleinreisenden Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen unterbringen müssen. Im Moment gibt es eine riesige Not, solche Einrichtungen überhaupt zu schaffen. Wir sind daher unglaublich froh, dass die Gotteshütte hier so etwas geschaffen hat. Ich glaube, es ist gut, wenn diese Einrichtungen nicht zu riesig sind. Je mehr diese Jugendlichen nur unter sich bleiben, umso weniger Chancen haben sie, zu lernen. In diesem kleinen Rahmen gibt es mehr Möglichkeiten, Integration und Anpassung zu lernen. Auch die kriminellen Jugendlichen sind ja nicht als Täter geboren. Sie müssen die Chance bekommen, ganz viel für sich zu lernen und tolle junge Männer zu werden.

Sehen Sie die?

Nowak Ja, diese Chance sehe ich. Vielleicht ist es besser, wenn die jungen Flüchtlinge dezentral und nicht neben dem Hauptbahnhof in Köln untergebracht sind. In einer Großstadt ist alles natürlich viel weniger kontrollierbar.

Wie können Sie, als Psychologen, ihnen helfen?

Nowak Wir helfen den Jugendlichen erst einmal, mit ihren schrecklichen Erfahrungen leben zu können. Unterstützung, dass sie schlafen können, dass sie diese schrecklichen Bilder aus dem Kopf bekommen, und wie sie sich von den Gewalterfahrungen, die sie gemacht haben, distanzieren können. Um einfach frei weiterzuleben und zu lernen. Viele der Jugendlichen haben erzählt, dass sie hier aufgrund der inneren psychischen Aufgeregtheit Schwierigkeiten haben, zu lernen. Dabei sind sie sehr lernwillig. Aber sie brauchen erst einmal eine innere psychische Stabilität. Und wir wollen ihre Fragen beantworten, die das soziale Miteinander hier betreffen.

Was kann, was muss die deutsche Gesellschaft tun?

Nowak Wir brauchen viel Zivilcourage von allen Bürgern, da genau hinzuschauen und sich frühzeitig einzumischen. Stellung zu beziehen und nicht wegzuschauen und nicht alles nur Fachdiensten oder der Polizei zu überlassen. Wichtig ist es dranzubleiben, aber auch zu fordern. Es geht nicht nur darum, vorsichtig an die Sache heranzugehen. Integration ist eine schwere Aufgabe nicht nur für uns Deutsche, sondern auch für diese jungen Leute. Die müssen wirklich was tun. Die Bereitschaft zumindest bei den Jugendlichen, die wir betreuen, viel zu lernen, ist groß.

(RP)
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