Kreis Mettmann Sandwesten für Kinder sind umstritten

Kreis Mettmann · Sie sollen auf Betroffene mit ADHS-Syndrom eine beruhigende Wirkung haben, werden aber auch kritisch gesehen.

 Das Bild oben zeigt ein (nicht betroffenes) Mädchen, das eine Sandweste des Herstellers Beluga Healthcare zeigt.

Das Bild oben zeigt ein (nicht betroffenes) Mädchen, das eine Sandweste des Herstellers Beluga Healthcare zeigt.

Foto: Beluga Healthcare

Es geht neuerdings um ein Kleidungsstück, um Westen, die mit Sand gefüllt sind und in etlichen Schulen zappeligen Kindern angezogen werden. Zu genau diesen Westen meint der Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Dr. Josef Kahl: "Sandwesten werden seit vielen Jahren in Grundschulen und Förderschulen eingesetzt. Lehrer und Therapeuten versprechen sich davon, dass die Westen vor allem unruhigen Kindern helfen, sich selbst besser zu steuern. Frühgeborene könnten damit die Enge des Mutterleibes wiedererleben". Soweit der Anfang der Stellungnahme.

Im Endspurt auf Weihnachten flammte das Thema auf und ging erst einmal im Kerzenschimmer unter. Nun arbeiten die Kinder- und Jugendmediziner ausgesprochen klar und eindeutig das Thema auf, dessen Existenz manch einer kaum glauben mag. Es ist tatsächlich so, dass - vornehmlich in Deutschlands Norden - Lehrer eigenmächtig, manchmal sogar mit Unterstützung der Eltern, unruhigen Kindern im Unterricht bunte Westen anziehen, die wie Daunenwesten aussehen, die aber in den abgesteppten Rippen mit bis zu sechs Kilogramm Sand gefüllt sind.

Das derartig als negativ eingeordnete Kind hat daran schwer zu tragen - an der Weste und an der Tatsache, dass es vor den anderen so dargestellt wird, als dass es eine merkwürdige Behandlung hinnehmen müsse, um in die Klasse zu passen. "Wissenschaftlich belegt ist der therapeutische Nutzen der Sandwesten aber bisher nicht. Als Kinder- und Jugendärzte halten wir es zudem nicht für vertretbar, unruhigen, konzentrationsschwachen Kindern eine Sandweste anzuziehen und sie damit als Störenfriede oder gar als ADHS-Patienten zu stigmatisieren. Unruhige, unkonzentrierte Kinder brauchen eine gründliche Abklärung, jedoch nicht durch die Lehrkraft", sagen die Kinderärzte.

Rolf Steuwe, Ratingens Erster Beigeordneter und Dezernent für Schulverwaltung, meint, dass in Ratingen nicht zu derartigen Ruhigstellungs-Methoden gegriffen werde, und Kinderarzt Bernd Appolt ist auch noch kein Fall bekannt, bei dem mit Sandgewicht gegen unruhige Kinder vorgegangen werde. "Das wäre ja auch die Höhe", meint er und betont, dass kein Lehrer, sondern nur Fachärzte die Kompetenz hätten, eine entsprechende Diagnose zu stellen und Therapien vorzuschlagen - zu denen sicherlich keine Sandwesten gehörten.

"Nur erfahrene Kinder- und Jugendärzte sind zu einer differenzierten Diagnose in der Lage. Etwa drei bis fünf Prozent Kinder eines Jahrgangs sind ADHS-Patienten, die also eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung haben und eine Therapie brauchen. Die vielen anderen Kinder, die sich nicht konzentrieren können, die unruhig sind und den Unterricht stören, haben meist einfach nicht gelernt, sich den Erfordernissen des Schulunterrichts anzupassen, zum Beispiel eine gewisse Zeit still zu sitzen und ruhig zu arbeiten".

Die Mediziner wissen aber auch, dass in vielen Schulen die Klassen zu groß sind, die Räume zu eng und dass die überforderten Pädagogen und Pädagoginnen die individuellen Bedürfnisse der Kinder nicht ausreichend berücksichtigen können. Unruhige Kinder als krank "auszusortieren" und ihnen die Sandweste überzuziehen löst diese Probleme nicht. "Sinnvoller wäre es hier, besser auf die Kinder einzugehen und sie zu fördern, kleinere Klassen einzurichten und mehr Bewegung in den Unterricht zu integrieren." Eltern und Lehrer, die die Sandweste schätzen, können einmal für sich selber hochrechnen, wie schwer eine Weste für sie wäre. Denn ein Kind trägt unter Umständen ein Zehntel seines Körpergewichtes als Erziehungsmittel am Leib.

(RP)
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