Hilden "Hier fühlen wir uns endlich wieder sicher"

Hilden · Kann es einen größeren Unterschied zwischen zwei Ländern geben als zwischen Afghanistan und Deutschland? Shah Agha Amiry muss lächeln, als er die Frage hört. "Nein", ist seine Antwort, "größere Gegensätze kann ich mir nicht vorstellen."

 Familie Amiry um Vater Shah Agha: Tochter Zahra (7) geht zufällig auf die Schule, die auch Ingrid Benecke damals besucht hat. Heute heißt sie Wilmhelm-Busch-Schule, damals war es die Schule Richrather Straße. hik

Familie Amiry um Vater Shah Agha: Tochter Zahra (7) geht zufällig auf die Schule, die auch Ingrid Benecke damals besucht hat. Heute heißt sie Wilmhelm-Busch-Schule, damals war es die Schule Richrather Straße. hik

Foto: Olaf Stasc

Es beginnt mit dem Klima: In seiner Heimatstadt Masar-e Sharif ist es in aller Regel heiß. In Düsseldorf, wo er mit seiner Familie im März dieses Jahres aus dem Flieger stieg, war es kalt und dunkel. Der afghanische Staat kümmert sich nicht um Bedürftige oder Alte, dafür sind dort die Kinder zuständig. Der deutsche Sozialstaat tickt anders, kennt aber weit mehr Regeln und Vorschriften. "In meiner Heimat ist es üblich, dass die Menschen drei bis vier Kinder haben", nennt Amiry einen weiteren Unterschied, den er bereits ausgemacht hat. "Hier ist das eher die Ausnahme."

Ein Minibus mit einem iranischen Fahrer - man konnte sich verständigen - brachte die fünf Amirys an jenem kalten Märzabend auf direktem Weg vom Flughafen nach Hilden. Seitdem leben sie in einem städtischen Übergangsheim.

Der 29-jährige, sehr schmale und große Mann erzählt seine Geschichte in perfektem Englisch. Er ist in Deutschland, weil er den deutschen und internationalen Truppen der Isaf geholfen hat. Er spricht mehrere Sprachen und war Übersetzer im Militärcamp. Irgendwann begannen die Drohungen gegen ihn und seine einheimischen Kollegen. Die Taliban töteten etliche von ihnen, er selbst wurde vor einem Jahr entführt und massiv eingeschüchtert. Damit gehört er zu den 900 Afghanen, die über ein Patenschaftsprogramm der Regierung seit 2013 nach Deutschland ausgereist sind. Bei Vorliegen einer individuellen Bedrohung wird nach einer Prüfung eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland gewährt. "In akuten Fällen werden darüber hinaus Vorkehrungen getroffen, um sie bis zu ihrer Ausreise zu schützen. Bislang sind etwa 1200 Gefährdungsanzeigen überprüft worden", heißt es bei der Bundeswehr dazu. Amirys Antrag wurde bewilligt, die Aufenthaltserlaubnis ist zunächst auf drei Jahre befristet. "Er hat sofort nach einem Deutschkursus gefragt", sagt Michaele Neisser, im Sozialamt verantwortlich für Flüchtlinge, "und ist nun fünf Tage in der Woche im Integrationskursus. Er will arbeiten, so schnell es geht." Freie Zeit verbringt er in der Bücherei. Seine Frau Zar-ghona soll demnächst ebenfalls mit dem Sprachprogramm starten. Die älteste Tochter Zahra (7) ist in der Grundschule und lernt dort, die beiden Kleineren, Rokhsar und Yahya, werden wohl schnell folgen.

Jetzt sucht der Vater dringend eine Vier-Zimmer-Wohnung. "Uns wurde hier so freundlich geholfen" - eine erste Bilanz - , "dass wir in Hilden bleiben möchten. Wir fühlen uns endlich wieder sicher." Und wärmer sei es inzwischen ja auch.

Ein Dachzimmer war Zuflucht für drei Jahre

Die Russen kommen! Das Ende des Krieges bedeutet in Sachsen nicht das Ende von Angst und Schrecken. Sondern das Ende von Heimat: Wer konnte, flüchtete. Auch der Vater von Ingrid Benecke. Im Mai 1945 setzte er sich auf sein Fahrrad und radelte gen Westen - zunächst ohne seine Frau und seine Kinder. Er sollte noch zwei Jahre dauern, ehe die Tochter ihrem Vater folgen konnte - nach Hilden. "Teils per Zug, teils zu Fuß durch Wälder und Wiesen, immer darauf bedacht, nicht erwischt zu werden." Nie wird die alte Dame die Einzelheiten jener Übersiedlung vergessen. Und nie das Gefühl, in der neuen Heimat nicht willkommen zu sein, ausgegrenzt und isoliert. "Es war für uns Flüchtlingskinder sehr schwer, Anschluss zu finden. Man kam einfach nicht in bestehende Gruppen hinein. Viele der Einheimischen befürchteten Einschränkungen oder Veränderungen im persönlichen Bereich durch zu viele Flüchtlinge. Sehr willkommen waren wir jedenfalls nicht." Drei Jahre lang lebte die Familie in einem Dachzimmer eines Hauses an der Schützenstraße, eine Toilette gab es nur in einer anderen Wohnung und nur zu bestimmten Zeiten. Die Grundschülerin musste lange Zeit auf dem Boden schlafen, bis ein Bett besorgt werden konnte. Schlimm war, dass sie als Sächsin ein anderes Deutsch sprach als die Rheinländer - den Hänseleien hatte die kleine Ingrid nicht viel entgegenzusetzen.

Ganz ähnlich klingt die Erinnerung von Manfred Krause, der 1934 geboren wurde und 1944 zunächst aus Ostpreußen floh, später dann aus der DDR nach Hilden kam. "Wenn ich ein Mädchen kennenlernte, wollten die Eltern nicht, dass ihre Tochter einen DDR-Flüchtling zum Freund hat", berichtet er. "Willkommen ist man in solche einer Situation nicht."

An der späteren Willkommenskultur der Stadt hat Ingrid Benecke großen Anteil. Sie hat die Erleichterung nicht vergessen, die sie verspürte, als schließlich eine Wohnung gefunden war - Bürgermeister Robert Gies hatte sich persönlich gekümmert. Ihr war klar, dass sie sich an ihre neue Umwelt anpassen musste, wollte sie Erfolg haben. Das Wort Integration war noch nicht erfunden. "Ich behaupte von mir, dass mir das voll gelungen ist. Und heute kann ich auch rheinisch platt sprechen." Jahrzehntelang war sie Ratsfrau für die CDU, dem Verein Nachbarschaftshilfe und der Senioren-Union Hilden steht sie heute noch vor, das Bundesverdienstkreuz nahm sie 2009 in Empfang, erst vor einem Jahr ehrte Ministerin Ursula von der Leyen die mehrfache Großmutter für ihren Einsatz für das Sozialwerk der Bundeswehr. Dieses Sozialwerk spielt bei dem Programm, das der afghanischen Familie Amiry aktuell hilft, ebenfalls eine Rolle. So klein ist die Welt.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort