Hartmut Radebold Endlich über Kriegserlebnisse sprechen

Hilden · Auch wenn der Zweite Weltkrieg schon vor 68 Jahren endete, dauern seine Folgen an. Denn im Alter brechen viele Erinnerungen hervor. Altersforscher Hartmut Radebold (78) erklärte am Freitag bei einer Fachtagung in Hilden, wie es dazu kommt.

 Hartmut Radebold lehrte als Professor an der Universität Kassel Psychologie.

Hartmut Radebold lehrte als Professor an der Universität Kassel Psychologie.

Foto: Staschik, Olaf (OLA)

Sie haben untersucht, wie Menschen, die den Krieg als Kind miterlebt haben und ab 1929 geboren wurden, mit den Erinnerungen umgehen. Warum verarbeiten die Menschen die Geschehnisse erst Jahrzehnte später?

Radebold Wenn die Menschen in Rente gehen, entfällt für sie der Beruf als Identitätsstiftung. Sie werden in der Gesellschaft nicht mehr so gebraucht wie früher, körperliche Funktionen lassen nach. Gleichzeitig realisieren sie, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Es mehren sich Bedrohungen und Verluste — Partner, wichtige Verwandte und Freunde sterben —, und so beginnen viele, sich mit ihrer eigenen Biografie und ihrer Familie auseinanderzusetzen. Das kann dazu führen, dass Traumata reaktiviert werden.

Inwiefern?

Radebold Das Unbewusste ist zeitlos. Es schlummert in jedem Menschen und kann durch bestimmte Situationen wieder hervorgerufen werden, zum Beispiel durch einen Unfall, eine Operation oder einen Überfall. In erschreckender Weise wird dann alles von damals wieder wachgerufen. Vor drei Wochen hatte ich beispielsweise einen Vortrag in Berlin zu dem Thema gehalten. Plötzlich begannen zwei Männer zu weinen und wussten gar nicht, warum, erzählten sie mir später.

Wie sind denn die Familien mit den Erlebnissen des Krieges umgegangen?

Radebold Es wurde nicht darüber geredet. Die Frau fragte den Mann nicht, was er an der Front und in der Gefangenschaft erlebt hatte, und der Mann fragte nicht die Frau. Zum einen, weil es sich damals nicht gehörte, so etwas zu fragen, zum anderen, weil man ja sonst eventuell eine erschreckende Antwort bekommen hätte. Mit Kindern wurde erst recht nicht darüber gesprochen. Sie hatten zu gehorchen und bei Tisch zu schweigen. Das war damals so. Hinzu kam die kollektive Schuld, über die man nicht reden wollte. Außerdem hatte man viele Jahre gedacht, Kinder würden die Kriegserlebnisse einfach wegstecken.

Ist das so?

Radebold Nein. Sie haben das Erlebte nur gut abgekapselt und waren auch stolz darauf. Kinder bis sechs Jahre haben alles komplett verdrängt und können sich auch nicht an die Dinge erinnern, die ihre älteren Geschwister ihnen erzählen. Die älteren Kinder haben die Geschehnisse auf verschiedene Arten bewältigt: Sie haben sie verleugnet, bagatellisiert, damit abgetan, dass alle so etwas erlebt haben, und nur ins Gegenteil verkehrt, indem sie das Erlebte als Abenteuer darstellten.

Wie stark hat der Krieg die Kinder denn belastet?

Radebold Man schätzt, dass etwa 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen traumatisiert waren. 30 weitere Prozent haben Schreckliches erlebt, sind aber nicht unbedingt traumatisiert, weil sie sich beschützt fühlten, etwa durch ihre Familien. Weitere 40 Prozent haben nichts Schlimmes erlebt, sondern schwärmen eher davon, wie sie nach Kriegsende auf Trümmern gespielt und Flaksplitter gesammelt haben.

Ist es denn gut, wenn die Menschen im Alter über das Erlebte sprechen?

Radebold Ja, denn sie haben viel zu erzählen und müssen aufpassen, dass es sie nicht zerstört. Gerade am Lebensende wäre es sehr wichtig, mit den eigenen Kindern zu reden und zu erklären, warum sie in ihrem Leben bestimmte Verhaltensmuster an den Tag gelegt haben.

Was haben die Kinder der Kriegskinder damit zu tun?

Radebold Sehr viel. Sie fragen, warum sie immer alles aufessen, immer auf gepackten Koffern sitzen, sofort nach der Sicherheitstreppe im Hotel suchen mussten und ihre Eltern Angst vor Feuerwerk und dunklen Kellern hatten. Sie wurden nach Regeln und mit Ängsten erzogen, die sie nicht verstanden haben. Außerdem haben viele gespürt, dass sie ihre Eltern gefühlsmäßig nicht erreichen konnten. Gerade Männern, die den Krieg als Kind erlebt haben, fiel und fällt es zum Beispiel schwer, ihre eigenen Kinder zu umarmen.

Wie haben Sie den Krieg erlebt?

Radebold Ich habe ihn mit aller Härte erlebt. Wir wurden in Berlin ausgebombt, nach Polen evakuiert, mein Bruder kam als 15-Jähriger als Zivilgefangener nach Russland, und mein Vater, ein Arzt, starb an der Oder-Front, während er in einem Zelt operierte. Als wir nach Berlin zurückkamen, war alles weg. Und dann kam noch die Berliner Blockade. Erst ab 1950 hatte sich das Leben wieder normalisiert. Aber es bewegt mich immer noch. Wenn wir Betroffenen nicht über das Erlebte und unsere Gefühle sprechen, denken alle, wir wären aus "Beton" und es wäre unmännlich, darüber zu reden.

SUSANNE GENATH STELLTE DIE FRAGEN

(RP/ac)
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