Gruiten Kirchenglocken wurden zu Kanonenfutter

Gruiten · Vor 100 und vor 75 Jahren mussten die Gruitener Kirchengemeinden ihre Glocken für die Weltkriege opfern.

 Eine Glocke wird am 20. April 1942 aus dem Kirchturm der Nikolaus-Kirche abgeseilt. Zwei Tage später werden zwei Glocken mit zusammen 2225 Kilogramm Gewicht zunächst nach Hilden gebracht und später zum Einschmelzen abtransportiert.

Eine Glocke wird am 20. April 1942 aus dem Kirchturm der Nikolaus-Kirche abgeseilt. Zwei Tage später werden zwei Glocken mit zusammen 2225 Kilogramm Gewicht zunächst nach Hilden gebracht und später zum Einschmelzen abtransportiert.

Foto: Gruitener Archive

Bronze war in beiden Weltkriegen in großen Mengen für die Kriegsmaschinerie wichtig. Und in den Kirchtürmen hing dieses Material in Form von zentnerschweren Glocken. Deshalb mussten 1917 und erneut nur 25 Jahre später Kirchenglocken aus Bronze als "Kanonenfutter" herhalten. In den beiden Weltkriegen sollen insgesamt über 100.000 Glocken konfisziert, aus Kirchtürmen abgeseilt und zum Einschmelzen abtransportiert worden sein. Auch die beiden Gruitener Kirchen haben ein paar Tonnen der begehrten Bronze beisteuern müssen.

Ernst Breidbach, der langjährige Baas der Aulen Gruitener, hat in seinen Jugenderinnerungen festgehalten: "Im Juni 1917 musste auch unsere Kirchenglocke dem Vaterland geopfert werden. Im kirchlichen Wochenblatt wurde folgendes über den Abschied geschrieben: 'Am 27. Juni erklangen zum letzten Mal unsere beiden Kirchenglocken gemeinsam. In einem einstündigen Geläut ... nahm die größere Glocke von der Gemeinde Abschied, um am folgenden Tag in den Heeresdienst einzutreten und sogleich den Heldentod zu erleiden.'"

 Die Söhne des damaligen Pfarrers und des Küsters der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde posieren neben einer der demontierten Kirchenglocken.

Die Söhne des damaligen Pfarrers und des Küsters der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde posieren neben einer der demontierten Kirchenglocken.

Foto: Gruitener Archive

Das betraf die größere Glocke der evangelisch-reformierten Kirche. Aber auch die katholische Kirche blieb 1917 nicht verschont. Zwei Glocken musste sie hergeben, und nur die alte Nikolausglocke von 1521 blieb unangetastet. 1924 wurde das Geläut der katholischen Kirche wieder um zwei Glocken ergänzt. Und die evangelisch-reformierte Kirche ersetzte 1925 die 1917 verlorene Glocke ebenfalls durch eine neue. Aber schon 15 Jahre später zeichnete sich ab, dass die neuen Glocken wieder eingeschmolzen werden sollten. Mit einem Erlass vom 15. März 1940 wurden alle Bronzeglocken im Reich beschlagnahmt, und ein Runderlass des Reichsinnenministers vom 14. November 1941 ließ keinen Zweifel daran, dass davon auch Gebrauch gemacht werden würde.

Im evangelischen Pfarrhaus Gruitens ging die "Ankündigung der Glockenabnahme" am 9. Januar 1942 ein. Abgegeben werden musste wieder die größere der beiden vorhandenen Glocken, 203 kg schwer. Ihre Inschrift enthielt den Zusatz "Dem Vaterland geopfert 1917 - Wiedererstanden 1924". Von dieser Glocke haben sich zwei Fotos erhalten. Beide aufgenommen, als sie vor der Kirche zum Abtransport bereitgestellt worden war. Die darauf abgebildeten Kinder sind die Söhne des damaligen Pfarrers und des Küsters der Gemeinde.

Über die Abgabe der Glocken aus der katholischen Kirche hat Prälat Marschall, der damalige Pfarrer der St. Nikolaus-Gemeinde, dem Erzbischöflichen Generalvikariat am 29. April 1942 mitgeteilt, "dass am 20. April unsere Glocken abmontiert und am Morgen des 22. April gegen 10 Uhr auf einem Lastwagen nach Hilden gebracht wurden. Die Arbeiten wurden im Auftrage der Kreishandwerkskammer ausgeführt durch Zimmermeister Stachelhaus in Hilden." Die beiden abgeholten Glocken hatten ein Gesamtgewicht von 2225 Kilogramm.

Glockenabnahmefeiern waren durch den Reichskirchenminister untersagt worden. Nur das Verlesen einer Kanzelerklärung und das Hinzufügen einer kurzen Ansprache des Pfarrers waren zugelassen. Für die Kanzelerklärung in evangelischen Kirchen wurde folgender Text vorgegeben:

"Nachdem in Ausführung der Anordnung des Herrn Beauftragten für den Vierjahresplan über die Erfassung von Nichteisenmetallen die erforderlichen Vorarbeiten abgeschlossen sind, ist mit dem Ausbau der Bronzeglocken begonnen worden. Die künstlerisch oder geschichtlich wertvollen Glocken werden nicht abgenommen werden. Darüber hinaus ist dafür Sorge getragen, dass in jeder Kirchengemeinde eine Glocke verbleibt. Um des Vaterlandes Willen werden unsere Gemeinden ihre Glocken freudig hergeben. Wir helfen damit dem Führer und seiner Wehrmacht, den Söhnen unserer Gemeinde, die in hartem Kampfe ihr Leben für uns einsetzen, zum völligen und endgültigen Siege. Wir sind dankbar, dass unseren Kirchengemeinden wenigstens eine Glocke verbleiben soll. Lasst uns ihrem Rufe zum gemeinsamen Gottesdienst mit vertiefter Treue folgen! Ihre einsame Stimme soll uns ständig mahnen an den Ernst der Entscheidung in die unser Volk hineingestellt ist, und die wir nur mit Gott bestehen können. Sie soll uns daran erinnern, dass über uns und unserem Volke seine Allmacht und Treue steht, und dass wir uns ihm in allen Dingen getrost anvertrauen dürfen."

Für eine eventuelle Ansprache des Pfarrers wurden Richtlinien mitgeliefert: Sie solle kurz und in politischer Hinsicht nicht zu beanstanden sein. Abschließend hieß es: "Im allgemeinen dürfte sich nach Bekanntgabe der vorstehenden Kanzelabkündigung des Evangelischen Oberkirchenrats eine weitere Ansprache erübrigen."

Ähnliche Vorgaben gab es offenbar auch für die katholischen Pfarrer. Prälat Marschall hat dazu an den Generalvikar berichtet, dass er die Kanzelverkündigung gemäß der Verordnung im Kirchlichen Anzeiger vom 15.12.1941 gemacht habe. 1953 erhielt die Nikolaus-Kirche die neuen Glocken. Seither schwingen neben der erhalten gebliebenen Nikolaus-Glocke aus dem Jahre 1521 drei weitere Glocken: die kleine Marienglocke (380 Kilo schwer, auf den Ton h gestimmt), die Friedensglocke (502 Kilo, Ton a) und die große Concordia (1250 Kilo schwer, Ton e); der Beiname St. Bernhards-Glocke deutet auf Prälat Bernhard Marschall hin, der jahrzehntelang in Gruiten wirkte. Sie klingen zur Kirchweih oder Fronleichnam in besonderer Weise. Dann schlägt sie Josef Ahrweiler rhythmisch von Hand an. Er hat von seinem Vater Heinrich die Tradition des Beierns übernommen.

(RP)
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