Wolfgang Thierse Toleranz ist eine anstrengende Tugend

Grevenbroich · Der ehemaligen Bundestagspräsident und SPD-Politiker referiert zu dem Thema "Respekt vor den Unterschieden".

 Wolfgang Thierse (72) kommt am Dienstag nach Kaarst.

Wolfgang Thierse (72) kommt am Dienstag nach Kaarst.

Foto: dpa

Herr Thierse, Wie definieren Sie Toleranz?

Wolfgang Thierse Toleranz ist eine herbe Tugend. Sie bedeutet nicht Desinteresse oder Gleichmacherei, sondern sie ist die schwierige Verbindung der Vertretung der eigenen Überzeugung mit dem Respekt vor der Überzeugung anderer.

Sind Sie ein toleranter Mensch?

Thierse Ich hoffe es - schon deshalb, weil ich meine, dass in meinem Kopf mehr als ein Gedanke und ein Argument Platz haben. Deswegen höre ich auch immer hin, was andere sagen. Das heißt aber nicht, dass ich zustimme und gleicher Meinung bin, sondern dass ich Gesprächspartner mit anderen Überzeugungen anerkenne.

2012 haben Sie kritisiert, dass die Kultur im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, wo auch Sie wohnen, unter dem Zuzug zu vieler Schwaben leide. Waren Sie da intolerant?

Thierse Nein, überhaupt nicht. Es war eine ironisch-heitere Bemerkung über Probleme im Zusammenleben in Berlin zwischen den Einheimischen und Zugezogenen. Es war mehr der Hinweis darauf, dass Berliner ihre Sprache verteidigen und ihre Schrippen weiter Schrippen und nicht Wecken nennen wollen.

Diese Kritik hat man Ihnen richtig übel genommen. Noch zwei Jahre später durften Sie im baden-württembergischen Landtag zum Mauerfall-Jubiläum nicht sprechen...

Thierse ... daran merkt man, dass ein Teil der Schwaben ziemlich humorlos und die schwäbische CDU besonders humorlos ist. Im badischen Teil Baden-Württembergs haben mich meine Äußerungen dagegen eher populär gemacht.

Bei welchen Themen zeigen Sie Null-Toleranz?

Thierse Wenn Intoleranz in Gewalt umschlägt, muss ihr widersprochen werden. Antisemitismus, Demokratie-Feindschaft, Ausländerfeindlichkeit, Rassenhass - das alles ist nicht zu tolerieren. Da gehört es zur demokratischen Kultur zu widersprechen und zu widerstehen.

Etwa eine Million Flüchtlinge hat Deutschland mittlerweile aufgenommen. Angela Merkel behauptet "wir schaffen das". Wie ist Ihre Meinung: schaffen wir das wirklich?

Thierse Für diese Frage bräuchte ich eigentlich viel mehr Zeit. Daher grundsätzlich: Der Satz von Frau Merkel war eine Ermutigung und Ermunterung - so habe ich ihn verstanden. Wenn er jedoch immer nur wiederholt wird, bewirkt er bei einem Teil der Bürger eher das Gegenteil, indem sich Menschen fragen: Wie sollen wir das denn schaffen? Deshalb muss konkrete Politik jetzt zeigen, dass wir diese große Integrationsaufgabe bewältigen können: finanziell, organisatorisch, bildungs- und sozialpolitisch.

Sie sind überzeugter Katholik und seit Jahren schon Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Vor wenigen Tagen sorgte ein Papier des CSU-Vorstands zur Flüchtlingspolitik für Diskussionen, in dem eine Vorrang-Regelung für Zuwanderer aus dem "christlich-abendländischen Kulturkreis" geplant war. Wie denken Sie als Christ darüber?

Thierse Nächstenliebe kennt keine konfessionellen und religiösen Grenzen. Ich begrüße sehr, dass der Kölner Kardinal und der rheinische Präses ausdrücklich betont haben, dass die Nächstenliebe sich nicht beschränkt auf Zuwanderer aus dem gleichen christlichen Kulturkreis, wie das missverständlich in diesem CSU-Papier formuliert worden war.

Wie wichtig ist Toleranz beim Thema Integration?

Thierse Zunächst einmal: Integration heißt nicht, die eigene Religion oder Kultur zu verstecken oder zu verleugnen, sondern sich auf den Dialog, das Gespräch, den Streit einzulassen. Ohne Streit ist Pluralismus nicht denkbar. Wer denkt, Pluralismus sei eine Harmonie-Veranstaltung, ist ein naiver Mensch. Eine pluralistische Gesellschaft ist voller Konflikte, weil sie eben eine strapaziöse Vielfalt von Überzeugungen, Wahrheitsansprüchen, Lebensweisen und kulturellen sowie religiösen Prägungen beinhaltet. Dieses Zusammenleben muss immer wieder neu austariert werden.

Es gibt den Fachbegriff der "gespaltenen Akzeptanz". Gemeint ist die geheuchelte Akzeptanz beispielsweise gegenüber Migranten, Moslems, Homosexuellen oder psychisch Erkrankten, weil es dem Mainstream entspricht. Ist "gespaltene Akzeptanz" besser als gar keine?

Thierse (lacht) In gewisser Weise ja, weil sie immerhin die Bemühung um Friedfertigkeit zeigt. Toleranz ist aber nicht herablassende Duldung...

... sondern anstrengend...

Thierse Toleranz ist deshalb so anstrengend, weil man es schaffen muss, trotz fester eigener Überzeugungen die Überzeugungen anderer zu respektieren. Für die meisten Menschen besteht Toleranz darin: naja, ich kann es nicht ändern, also lassen wir es mal zu. Das ist nicht wenig. Aber es ist erst der Ausgangspunkt wirklicher Toleranz. Das Gespräch führte Bärbel Broer.

(NGZ)
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