Straelen Hagen Rethers Empörungs-Marathon

Straelen · Der Musik-Kabarettist liefert im ausverkauften Straelener Forum eine dreistündige Ausgabe seines Programms "Liebe". Ein langer Abend über die dünne Schutzschicht der Kultur und das Abgleiten in eine Politik der Instinkte.

 In die Tasten des Flügels griff Hagen Rether erst gegen Ende seines dreistündigen Programms im Straelener Forum. Er zeigte auf, dass vieles im Argen liegt.

In die Tasten des Flügels griff Hagen Rether erst gegen Ende seines dreistündigen Programms im Straelener Forum. Er zeigte auf, dass vieles im Argen liegt.

Foto: KS

Hagen Rether verlangt einiges ab. Sich und dem Publikum. Geschlagene drei Stunden war der Mann aus Essen im ausverkauften Straelener Forum auf der Bühne. "Liebe" lautet seit Jahren der Titel seines Programms, unter dem er die Missstände hierzulande und global thematisiert. Und trotz der Marathon-Distanz wurde deutlich, dass der Musik-Kabarettist längst nicht alles angesprochen hatte, was im Argen liegt.

"Was soll das?" und "Was machen wir da?" - immer wieder äußerte sich die Fassungslosigkeit des Akteurs in diesen Fragen. Oder aber er barg, im Bürostuhl zusammensinkend, das Gesicht in einer Hand. Lang ist die Liste der von Rether aufgezählten Ereignisse, über die sich die Leute, nicht nur an den Stammtischen und immer wieder hochgekocht in den Medien, wochenlang empören. Und die für das Schicksal der Menschheit und des Planeten, wenn überhaupt, nur von untergeordneter Bedeutung sind.

Die Aufregung um Böhmermann und Erdogan ist für ihn so ein Fall. Oder die Entrüstung über Chlorhühnchen aus den USA im Gefolge der TTIP-Vereinbarungen. "Es kommt nicht darauf an, Chlor-Hühnchen zu essen. Es kommt darauf an, überhaupt keine Hühnchen mehr zu essen", postulierte der Künstler. Gerade im zweiten Teil des Abends warb er für eine vegane Lebensweise, sah darin zugleich einen Ansatz für die Lösung mancher gesellschaftspolitischer Probleme. Im Satz "Metzger zu Altenpflegern" bündelte er das. Für Massentierhaltung würden Milliarden ausgegeben, auf der anderen Seite fehlten Millionen.

Die Aufregung um die Kölner Vorfälle in der Silvesternacht ist für Rether ein weiteres Beispiel für scheinheilige Empörung und das Gelten von Doppelstandards. Verprügelte und vergewaltigte Ehefrauen als Vorrecht des "weißen Mannes", der gleichzeitig voller Zorn auf dunkelhäutige Täter zeige. Kultur verschwinde, die Politik gleite ab in einen Appell an Instinkte, beklagt der Kabarettist. Die dünne Schicht der Vernunft zerbreche bei der geringsten Belastung. Die Scham als Regulativ sei weitgehend entfallen.

Und schon bei den Kindern werde Druck aufgebaut. "Zwei Dinge liebt der Kapitalismus nicht: die Leere und die Stelle", formulierte Rether. Früh werde jeder in die Rolle als Konsument gedrängt. Ein Unding ist für ihn Werbung im Kinderfernsehen. Und warum das frühe Aufstehen eine Tugend sein soll, ist ihm schleierhaft. "Es hilft nichts, wenn Du schlau bist, wenn Du doof bist", war einer der vom Publikum beklatschten Sentenzen. Die Wissensvermittlung für die Jugend ist für ihn weit von Bildung entfernt.

Selten gönnte Rether, der erst ganz zum Schluss in die Tasten des Flügels griff, den Zuhörern Erholung bei Phasen, in denen befreiendes Lachen die Reaktion war. Etwa, wenn er selbstironisch daher kam, mit Klischees spielte, Nullsätze wie "Das Wetter ist außer Kontrolle" zitierte oder den Konflikt Fleischesser-Vegetarier anhand von Dialogen mit seinem Großvater darstellte. Doch die meiste Zeit während des Drei-Stunden-Gastspiels hielt er den Spiegel vor - uns allen. Denn das Zeigen auf "Die da oben" helfe nicht, wir alle müssten unsere Lebensweise ändern. Denn sonst, prophezeite Rether, bekommt Europa 600 Jahre Kolonialismus um die Ohren.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort