Geldern Ein Tag mit Annika an der Förderschule

Geldern · Gemeinsamer Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderung ist ein erklärtes Ziel. Doch Kritiker sagen: Intensive Förderung geht über Inklusion. Die RP hat eine Zehnjährige einen Tag lang an der Don-Bosco-Förderschule begleitet.

 Die Ankunft am Morgen. Kinder stürmen aus dem Schulbus, ein fröhliches Bild.

Die Ankunft am Morgen. Kinder stürmen aus dem Schulbus, ein fröhliches Bild.

Foto: Klaus-Peter Kollings

Der Schulbus hält, Kinder stürmen raus. In der Klasse wird erst einmal der Tornister ins Fach gestellt, um Ruhe gebeten, bevor der Unterricht beginnt. So "besonders" ist der Schulalltag der zehnjährigen Annika eigentlich nicht, oder doch?

Annika geht in die vierte Klasse an der Don-Bosco-Schule in Geldern. Diese ist eine der wenigen Förderschulen, die es noch gibt. Ihr Einzugsgebiet reicht von Wachtendonk bis Goch, sie ist eine von zwei Schulen im Kreis Kleve mit dem Schwerpunkt "Geistige Entwicklung".

Start der Schulstunde. Klassenlehrerin Astrid Keuck möchte wissen, was zuletzt behandelt wurde. Annika zeigt begeistert auf und schiebt ein "Ich weiß es, ich weiß es" hinterher. Aber ihr stiller Mitschüler kommt dran: Das Thema in Sachunterricht ist das Wetter.

In Annikas Klasse sind nicht mehr als zehn Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren. Der Altersunterschied spielt keine Rolle. Ob in Mathematik oder Deutsch, alles richte sich nach dem Entwicklungsstand eines Kindes, erklärt Astrid Keuck. Sie ist Sonderpädagogin. Die Schüler in Annikas Klasse werden von zwei Sonderpädagoginnen und einer Ergänzungskraft im freiwilligen sozialen Jahr (FSJ) sowie einer individuellen Integrationshilfe betreut.

Die Personallage ist nicht immer unkompliziert. Da insgesamt bis zu zehn Prozent der Stellen für Sonderpädagogen an allen Schulen nicht besetzt werden können, werden zur kreisinternen Gleichbehandlung Kräfte von der Don-Bosco-Schule an andere Schulen abgeordnet. Deshalb wird der Unterricht donnerstags um den Nachmittag gekürzt. "Wir bedauern das sehr, aber eine 100-prozentige Besetzung gibt es im ganzen Kreis nicht", sagt Schulleiter Wolfgang Freyth.

Dem Vater und Schulpflegschaftsvorsitzenden Reiner Lücke ist die Regelung ein Dorn im Auge. Weniger Unterricht bedeute weniger Förderung. Förderung, die er zu Hause nicht leisten könne. Sein Sohn Jan hat das Phelan-McDermid-Syndrom. "Da fehlt ein Stück Chromosom", erklärt es Reiner Lücke für den Laien. Die Folge: Jan ist geistig schwer und körperlich mehrfach behindert. Für den Vater ist klar, dass sein Sohn an einer Förderschule am besten aufgehoben ist. "Auf eine normale Grundschule kann er nicht. Da würde er gnadenlos untergehen", ist er überzeugt.

Zurück in den Unterricht. Annika und ihre Mitschüler bekommen Aufgaben rund ums Wetter. Auf einem Blatt müssen Kleidungsstücke dem Wetter zugeordnet werden. Im Nebenraum dürfen Regen, Eis und Sonne anhand von Wasser, Eiswürfeln und Rotlichtlampe "begriffen" werden. "Im Lebensalter ist Annika zehn Jahre alt, vom Entwicklungsstand fünf", sagt ihre Mutter Claudia Nagel. Für sie war die Schulfrage schnell beantwortet, die Entscheidung für die Förderschule rasch gefasst. Doch sie bedauert, dass es immer noch Vorurteile gibt. "Unsere Kinder sind ja nicht doof", sagt sie.

Im Namen "Förderschule" steckt, worum es geht. Kinder zu fördern, bestmöglich und für ein selbstständiges Leben, das hat sich die Förderschule auf die Fahne geschrieben. Viele Schüler werden später in Wohngemeinschaften weitgehend eigenständig leben.

Annika sitzt vor ihrem Arbeitsblatt, auf dem sie dem Wetter Anziehsachen zuordnet. Als es Zeit für die Pause ist, springt sie voller Elan auf. Das Mädchen im Rollstuhl neben sich nimmt sie mit, kümmert sich ganz selbstverständlich um sie, schiebt sie nach draußen.

Der Vater von Jan spricht vom "beschützten Raum", den die Förderschule biete. "Hier wird keiner ausgegrenzt, weil er anders spricht oder sabbert." Kinder seien da schon oft brutal, Erwachsene auch. "Hier wissen die Kinder aber um das Handicap des anderen." Anders zu sein, ist an dieser Schule normal. Man kennt sich, auch jahrgangsübergreifend: Der Ruf "Annika" hallt oft durch die Pausenhalle.

"Sie wäre auf der Strecke geblieben", sagt Annikas Mutter zum Thema Inklusion. "Auf der Regelschule würden unsere Kinder unter die Räder kommen", ist sie sich mit Reiner Lücke einig. Lücke meint sogar, dass den Eltern etwas vorgegaukelt werde. Ein Kind mit Behinderung in einer normalen Schule hervorragend zu fördern, das sei bei einer Doppelbesetzung von Lehrer und Sozialpädagogen machbar. "Die Realität sieht aber anders aus", so Lücke. "Ich bin nach wie vor der Meinung, dass für viele unserer Kinder Inklusion nicht möglich ist, und ich würde mir wünschen, dass die Eltern es genauso sehen. Das Problem ist, dass es oft wegen des Drucks der Gesellschaft übersehen wird." Claudia Nagel sagt: "Annika ist glücklich hier und das zählt."

(RP)
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