Pflegekräfte aus dem Ausland "Ich hoffe immer, dass Ella wiederkommt"

Erkelenz · Hunderttausende Frauen aus Osteuropa kümmern sich ambulant um Pflegebedürftige in Deutschland. Auch Helma Viehausen (88) will nicht ins Pflegeheim. In drei Jahren zogen elf polnische Pflegerinnen ein und aus. Und dann kam Ella aus Grybów zu ihr nach Erkelenz.

 Immer sechs Wochen lebt Ella aus Polen im Haus von Helma Viehausen in Erkelenz, hilft ihr im Alltag und im Haushalt.

Immer sechs Wochen lebt Ella aus Polen im Haus von Helma Viehausen in Erkelenz, hilft ihr im Alltag und im Haushalt.

Foto: andreas bretz

Kaffeeduft zieht von der Küche bis ins Wohnzimmer. Die beiden Frauen sitzen am Esstisch. Sie schweigen. Helma Viehausen (88) liest die Tageszeitung, Ella (64) blättert in der "Swiat Kobiety". Auf einem Zierdeckchen liegt ein deutsch-polnisches Wörterbuch und Stift und Papier - für den Fall, dass die Frauen doch etwas Komplizierteres besprechen müssen.

In 163.000 deutschen Privathaushalten lebt eine osteuropäische Hilfskraft

Ella gießt Kaffee nach, denn es ist 7.30 Uhr. So beginnt jeder Morgen bei ihr und Helma Viehausen. Und so oder so ähnlich beginnt jeder Morgen auch in Hunderttausend anderen deutschen Wohnungen.

In rund 163.000 weiteren deutschen Privathaushalten lebt eine osteuropäische Hilfskraft für die "Rund-um-die-Uhr"-Betreuung eines Pflegebedürftigen. Das geht aus einer Studie hervor, die die Hans-Böckler-Stiftung 2015 in Auftrag gegeben hat. Gut 70 Prozent aller Pflegebedürftigen in Deutschland werden demnach zu Hause gepflegt. Am häufigsten ist die Tochter die Hauptpflegeperson (29 Prozent), doch immer öfter sind es osteuropäische Frauen, die für ein paar Wochen oder gar Monate zu den Senioren ziehen.

Ein Unfall vor drei Jahren hat für Helma Viehausen alles verändert. Eine gebrochene Schulter und sieben gebrochene Rippen waren die Folge, nachdem die alte Dame versucht hatte, nachts allein zur Toilette zu gehen. Die Seniorin konnte nicht länger allein bleiben. Das war der Familie Viehausen schnell klar. Doch nach vier Wochen Kurzzeitpflege im Heim war auch klar, dass ein Pflegeheim auf Dauer nicht infrage kommt. "Nie wieder", sagt Helma Viehausen, und sie verzieht dabei das Gesicht. Zu wenig Zeit, zu wenig Zuneigung und Liebe im Heim - so hat es die alte Dame empfunden.

Der Haustürschlüssel dreht sich im Schloss. Die Tür geht auf, und Viehausens Tochter Bärbel kommt herein. Wie jeden Morgen sieht sie auf dem Weg zur Arbeit kurz nach ihrer Mutter. "Eine Pflegekraft auf eigene Faust einzustellen, war finanziell unrealistisch", sagt Bärbel Viehausen. Allein die aufwendige Suche, das Finden und Einstellen. Versichern und Urlaub regeln. Die Tochter recherchierte und fand eine Alternative im Internet: Die Familie aus Erkelenz im Kreis Heinsberg kontaktierte eine Agentur in Nettetal, die polnische Pflegekräfte vermittelt. Drei Jahre ist das nun her. Elf fremde Frauen kamen und gingen. Und dann kam Ella.

"Ich möchte einfach was tun"

Alle sechs Wochen packt Ella, die eigentlich Elzbieta heißt, in ihrer polnischen Heimat Grybów (Grünberg) ihren Koffer - und räumt ihn in Erkelenz wieder aus. Ihre Agentur sitzt in Grybów. Geografisch betrachtet liegt die Stadt südlich von Krakau. Für Ella ist Grünberg da, wo ihre Mutter, ihre zwei Söhne, ihre Tochter und ein Enkelkind leben. Nach der Schule habe sie in einem polnischen Altenheim gearbeitet, erzählt Ella. "In Polen arbeitet man etwa 30 Jahre lang." Die Rente sei überschaubar. "Ich bin nicht krank, ich habe Zeit, ich möchte einfach was tun."

 Wenn das Wetter gut ist, spazieren Ella und Helma Viehausen durch Erkelenz.

Wenn das Wetter gut ist, spazieren Ella und Helma Viehausen durch Erkelenz.

Foto: Bretz, Andreas

Natürlich tue ihr das weh, die Familie so lange allein zu lassen. "Sechs Wochen sind mein Limit", sagt Ella, die bis zu einem halben Jahr bleiben könnte. Aber gerade jetzt, wo ihre eigene Mutter an Demenz erkrankt ist, wird die Zeit lang. Die Nachricht kam erst vor einigen Tagen. "Zuhause ist es anstrengend. Waschen, anziehen, kochen, sich um alles kümmern." Ella merkt, dass das eigentlich klingt wie ihr Alltag in Erkelenz. Kurzes Schweigen am Tisch. Dann lachen die drei Frauen. In Erkelenz sei die Arbeit aber nicht so hart. Und natürlich bezahlt.

Nach dem Frühstück legt sich Helma Viehausen meist wieder hin. Ella geht einkaufen, putzt und kocht. Tomatensuppe, Rote Bete, viel frisches Gemüse. Und Pierogi gibt es manchmal auch. Die gefüllten Teigtaschen schmecken auch der 88-Jährigen: "Ella kann toll kochen." Jeden Tag gehen die beiden Frauen an die Luft, Helma Viehausen im Rollstuhl. Jeden Mittag und an zwei Nachmittagen pro Woche hat die Polin frei. Dann trifft sie sich mit anderen polnischen Pflegekräften. Montag- und Mittwochmittag gehen sie zum freiwilligen Sprachunterricht, der ist von den Agenturen organisiert. Einige lassen Dampf über die Sturheit mancher Senioren ab oder schütten ihr Herz aus, wenn das Heimweh kommt.

Auch an Heiligabend saß Ella mit am Tisch

Ella hat schon in Hamburg, Ingolstadt und zeitweise in Bayern gelebt. Erkelenz gefalle ihr bisher aber am besten, sagt sie. Weil es nicht so groß ist. Weil die Innenstadt so nah und die Familie so nett ist. Helma Viehausen erzählt, dass die Familie kürzlich zwei Hochzeiten gefeiert hat. Ella war selbstverständlich mit dabei. Auch an Heiligabend saß Ella mit am Tisch und hat Geschenke getauscht. Die eigene Familie habe sie dabei schon vermisst. "Ella ist Familie!", sagt Bärbel da. "Ja?", fragt die Polin. Sie lächelt gerührt und ein wenig beschämt. "Ja", sagt Helma Viehausen. "Ich hoffe immer, dass du wiederkommst." Auch Maya sei eine gute Pflegerin. Sie kommt für sechs Wochen, wenn Ella in Grybów ist. Längst nicht mit jeder der bisherigen elf Pflegerinnen lief es gut. Schlechte Erfahrungen hat die Familie viele gemacht. "Frau Dubai" war eine davon.

Sie war klein, übergewichtig und schlecht zu Fuß. Zum Kartoffelschälen in der Küche brauchte sie ein Höckerchen. Den Kühlschrank hat sie nicht gefüllt, sondern täglich um literweise Saft erleichtert. Drei Wochen, dann haben sie die Agentur angerufen, und "Frau Dubai" musste gehen. Solche Missverständnisse sollen Vermittler verhindern.

Pflegekräfte und Entsendeagenturen

Wer eine Pflegekraft über eine seriöse Agentur engagiert, wird zunächst selbst geprüft. Gutachter sehen nach, ob das Haus groß genug und ein eigenes Zimmer vorhanden ist. Mittlerweile können Polinnen, Rumäninnen oder Bulgarinnen legal und geschützt in Deutschland pflegen, weil sie Verträge mit Entsendeagenturen schließen. Die Freizeit ist festgelegt, der gesetzliche Mindestlohn sichergestellt. In den Anfangsjahren dieses Konzepts sah das noch anders aus. Missbraucht wurde es von deutscher Seite, wenn Pflegerinnen unterbezahlt oder gar als "Haussklavinnen" ausgenutzt wurden und von Pflegerinnen, die in der Heimat keine Steuern zahlten. Trotzdem schätzen Experten, dass immer noch etwa die Hälfte der 24-Stunden-Pflegerinnen, die auch "Live ins" genannt werden, schwarz arbeitet. Das Bundesarbeitsministerium hat bislang nicht das Ziel formuliert, ambulante Pflege in Privathaushalten näher zu untersuchen.

Seit 59 Jahren wohnt Helma Viehausen in der Doppelhaushälfte in Erkelenz. Bei ihr klingeln Fußpfleger, der Friseur und sonntags der Pastor mit der Kommunion. Und die Gutachter vom Medizinischen Dienst kommen ab und zu. "Pflegegrad 3" bescheinigten sie ihr. Durch das zweite "Pflegestärkungsgesetz" werden Pflegebedürftige und Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz je nach Selbstständigkeit in fünf Pflegegrade eingestuft und erhalten entsprechende Leistungen. Mobilität, kognitive Fähigkeiten und Selbstversorgung seien nur eingeschränkt vorhanden, heißt es unter "Pflegegrad 3". Drei Jahre habe es gedauert, bis Tochter Bärbel fachkundig war. "Es erklärt dir niemand, was dir zusteht", sagt sie. Dabei ist finanzielle Unterstützung der Pflegeversicherung für viele Familien essenziell. 545 Euro bekommt die Familie an Pflegegeld.

Wie hoch das Gehalt ist, will sie nicht sagen

Ellas Gehalt, dessen genaue Summe nicht genannt werden soll, überweist die Familie an die deutsche Agentur, dann geht das Geld von der polnischen Entsendeagentur auf Ellas Konto. Wie viel Zloty es sind, möchte sie nicht sagen. Durchschnittlich überweisen Pflegebedürftige oder Angehörige zwischen 1700 und 2400 Euro brutto an die Agenturen. Etwa die Hälfte dürfte am Ende für die Pflegerin bleiben. Für Ella kommen noch die Anreisekosten hinzu. Manche Pflegekräfte kämen mit dem Flugzeug, Ella bevorzugt den günstigen Bus. Mit den zusätzlichen 150 Euro Fahrtgeld komme sie gut hin.

In dem Haus, in dem die beiden nun immer sechs Wochen zusammenleben, hat Helma Viehausen auch ihren Vater gepflegt. Zehn Jahre lang. Er war an Parkinson erkrankt. Das Zittern wurde täglich schlimmer. Ins Heim wollte er nicht. Es sei damals ohnehin unüblich gewesen, die Eltern in Pflegeheime zu geben, sagt Viehausen. Ihre Worte machen deutlich, warum Altenpflege im eigenen Zuhause in Deutschland eine so besondere Bedeutung hat. Der Vater starb 1970. Ihr Ehemann ging 1980. Sie blieb allein mit den beiden Kindern. Zog Tochter und Sohn groß und führte nebenher noch das Schreibwarengeschäft der Familie, das bald 85-jähriges Bestehen feiert. Sie hat sich immer um alle und alles gekümmert.

Als Helma Viehausen all das Revue passieren lässt, hört Ella gespannt zu. Sie versteht nicht alles, das verrät das Lächeln auf ihrem Gesicht. In diesem Moment aber blickt Tochter Bärbel zu ihrer Mutter. Bärbel schweigt. Doch man sieht es ihrem Blick an: Es war nie eine Frage von Schuldbewusstsein oder Verantwortung, die Mutter nicht ins Heim zu geben. Keine Frage, dass sie nun zuhause geweckt und gepflegt und um 19 Uhr ins Bett gebracht wird. Am liebsten von Ella.

(ball)
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