Erkelenz/Immerath Geschichte, als hätte es sie nie gegeben

Erkelenz/Immerath · Professor Ralf Georg Czapla, der in Immerath geborene bekannte Literaturwissenschaftler, sprach im Alten Rathaus über Erinnerungen an seinen Geburtsort.

 Die Kirche St. Lambertus, liebevoll auch "Dom" genannt, existiert heute nur noch auf Bildern. Am 8. Januar begann der Abriss, nur einen Tag später war das beeindruckende Bauwerk komplett gefallen.

Die Kirche St. Lambertus, liebevoll auch "Dom" genannt, existiert heute nur noch auf Bildern. Am 8. Januar begann der Abriss, nur einen Tag später war das beeindruckende Bauwerk komplett gefallen.

Foto: Michael Heckers (Archiv)

"Der Dom von Immerath, entschwunden wie die Seelen. Nur wer sich noch an ihn erinnert, kann von ihm erzählen." Es ist die Zeile eines Liedtextes, geschrieben von Gerd Schinkel. Sein Lied ist mehr als eine bloße Erinnerung an ein Kirchenbauwerk, das es seit Anfang Januar nicht mehr gibt. Weggebaggert für die Braunkohle.

"Nur wer sich noch an ihn erinnert, kann von ihm erzählen." Einer, der viel dazu sagen kann, ist Professor Ralf Georg Czapla, geboren 1964 im Immerather Haus Nazareth. "Wenn ich meine Geburtsurkunde sehe, dann ist sie unwirklich, denn es existiert davon nichts mehr - außer meiner Person", sagte der Literaturwissenschaftler. Seinen Vortrag, den er auf Einladung des Heimatvereins der Erkelenzer Lande im Alten Rathaus hielt, hat er "Immerath - (K)ein Ort wie jeder andere. Erinnerungen eines Wissenschaftlers an seinen Geburtsort." überschrieben und schickte vorweg: "Ich habe mich zu diesem Vortrag ziehen lassen, denn er enthält viel Persönliches."

Mit zwei Fotos, die er zeigte, machte er deutlich, warum der Abriss der Kirche für Verstörung sorgt: Das eine Bild zeigt den im Zweiten Weltkrieg nach einem Luftangriff schwer zerstörten Turm der Erkelenzer Pfarrkirche St. Lambertus, das andere das riesige Loch, das im Chorraum des Immerather Doms klafft, das der Bagger am 8. Januar in das Bauwerk gerissen hat. "Man weiß um den Wert der Geschichte, denn die Erkenntnisse aus der Vergangenheit sind wichtig für eine gedeihliche Zukunft", erläuterte Czapla. Aber: Diese Zukunft sei Immerath und seinen Menschen genommen worden. Der Wissenschaftler führte weiter aus, dass mit den Ortschaften, die dem Braunkohlentagebau zum Opfer fielen oder noch fallen werden, für die Menschen auch etwas verloren geht, das sinnstiftend war. "Der Mensch braucht Symbole für seine Identitätsbildung." Czapla fasste zusammen: "Hier ist mehr als bloßes Mauerwerk abgerissen worden, mehr als 900-jährige gewachsene Struktur. Geschichte wird ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben. Es geht auch ein Stück meiner eigenen Familiengeschichte." Aus dieser erzählte er - etwa, als er mit seinem Vater, einem Schornsteinfeger, mit dem Fahrrad unterwegs war. Die Touren führten auch durch Immerath. Und immer, wenn sie am Haus Nazareth vorbeikamen, deutete Vater Czapla auf das Fenster des Kreißsaals. "Da oben, da bist du geboren", pflegte Manfred Czapla dann stets zu sagen. Die Ironie: Aus der Geburtsstation wurde später der Trakt des Krankenhauses, in dem Czaplas Vater im Jahr 2003 starb.

Professor Ralf Georg Czapla stellte in seinem Vortrag die Frage, wie lange Zeit war, um an möglichen Änderungen zu arbeiten. Die Frage warf er auf, weil es ihn geradezu schockierte, dass auch wenige Tage vor dem Abriss des Doms die Kirchenfenster noch nicht gesichert waren. Seine Recherchen reichten bis in die 1950er Jahre zurück. "Die Bagger kommen erst in 30 Jahren", hieß es in Erkelenz damals. Mehr noch: In den 1960er Jahren sprach der frühere Stadtdirektor Alois Jost in einem Fernsehinterview von Stadtentwicklungsplänen - auch mit Blick auf den Tagebau. "Man hatte also 60 Jahre Zeit, Kulturdenkmäler zu erhalten", schlussfolgerte Czapla, der in diesem Zusammenhang von der Translozierung der Bauwerke sprach. Dabei geht es um ein Verfahren der Gebäudeversetzung, bei dem das Gebäude dokumentiert, abgebaut und möglichst originalgetreu an anderer Stelle wiederaufgebaut wird. "Statt dessen erinnert mich der Abriss des Doms an eine öffentliche Exekution." Günther Merkens, der Vorsitzende des Heimatvereins der Erkelenzer Lande, der Czapla einen Stein des Immerather Domes schenkte, sagte abschließend: "Der Mensch hat noch nie aus der Geschichte gelernt. Immerath ist ein Sinnbild verlorener Heimat."

(alt)
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