Erkelenz Der Tagebau und seine Geisterdörfer

Erkelenz · Der Braunkohlentagebau Garzweiler I und II hat in den vergangenen 50 Jahren 16 Orte geschluckt. Mehr als 11.000 Menschen mussten dafür schon weichen. Gestern ging der Abriss des Herzstücks von Borschemich, der St.-Martinus-Kirche, zu Ende. Der "Immerather Dom" folgt frühestens in einem Jahr. Eine Chronik.

Die St.-Martinus-Kirche in Borschemich (alt) ist abgerissen, das 1100 Jahre alte Rittergut Haus Paland steht bereits seit Dezember 2015 nicht mehr: Nach und nach hat Borschemich seine historischen Gebäude und Lebensmittelpunkte verloren. Fast jeder der 630 Einwohner ist seit 2007 ohnehin schon umgesiedelt worden. Borschemich ist zu einem reinen Geisterdorf geworden. Ein Schicksal, das es mit 16 weiteren Orten und Ortsteilen auf dem heutigen Gebiet des Tagebaus Garzweiler teilt. Fünf weitere sollen in den kommenden Jahren noch umgesiedelt werden.

Im Rheinischen Braunkohlerevier entstand 1983 der Tagebau Garzweiler - aus den zusammengelegten Abbaufeldern Frimmersdorf-Süd und Frimmersdorf-West. Heute wird er in Garzweiler I und Garzweiler II unterteilt und umfasst das Gebiet zwichen Bedburg, Grevenbroich, Jüchen, Erkelenz und Möchengladbach. Das Abbaugebiet erstreckt sich über ingesamt 84 Quadratkilometer. Mehr als 11.000 Menschen (der BUND NRW hat hierüber eine Statistik für alle Orte angelegt) mussten dafür ihre Heimat verlassen und in neu erbaute Orte ziehen. Bereits in den 1960er Jahren mussten die ersten Dörfer und Ortsteile für Bagger und Kohle weichen.

Garzweiler I

1. Reisdorf Einer der ersten Orte, die leergezogen wurden, war der Weiler Reisdorf, der damals auf dem heutigen Gebiet der Stadt Grevenbroich lag. Die 69 Bewohner mussten umziehen. Heute ist die Fläche bereits renaturiert. Ein Wegkreuz erinnert an die einstige Ortschaft.

2. Morken-Harff und 3. Omagen Ebenfalls im Laufe der 1960er Jahre wurden die Bewohner von Morken-Harff und des Weilers Omagen umgesiedelt - in das benachbarte Kaster. Abgebaggert wurde das Gebiet nach 1975.

4. Elfgen Bereits im Sommer 1957 wurde beschlossen, dass Elfgen und Belmen zum Abbaugebiet werden. Viele Kinder wuchsen damals in der Gewissheit auf, dass sie ihren Ort irgendwann verlassen müssen, berichten Zeitzeugen. Schnell sei Elfgen wie verlassen gewesen. Es siedelten sich keine neuen Industriebetriebe an, viele Menschen zogen bereits vor der offiziellen Umsiedlung weg. Der Grevenbroicher Stadtteil wurde dann tatsächlich in den 1970er Jahren nach Neu-Elfgen umgesiedelt. Die alte Kirche des Dorfes wurde allerdings erst in den 1980er Jahren für den Tagebau abgerissen - genauso wie die letzten Gehöfte. Inzwischen ist die Fläche wieder zugeschüttet. An den alten Ortsteil erinnert so gut wie nichts mehr.

5. Schloss Harff Das aus einem mittelalterlichen Wasserschloss entstandene Anwesen wurde 1972 gesprengt. Eine Informationstafel und ein Gedenkstein erinnern heute an die Geschichte des historischen Gebäudes.

Erkelenz: Der Tagebau und seine Geisterdörfer
Foto: afp, Jochen Gebauer

6. Belmen Die Bewohner des Ortsteils von Jüchen wussten ebenso wie die von Elfgen bereits seit 1957, dass ihre Heimat irgendwann abgebaggert werden würde. 1980 fand die Umsiedlung nach Neu-Elfgen statt. Ab 1985 wurde abgebaggert.

Der Tagebau Garzweiler II aus der Luft gesehen von Jürgen Laaser. Kückhoven liegt im Vordergrund des Betrachters, die RWE-Kraftwerke liegen am Horizont.

Der Tagebau Garzweiler II aus der Luft gesehen von Jürgen Laaser. Kückhoven liegt im Vordergrund des Betrachters, die RWE-Kraftwerke liegen am Horizont.

Foto: Laaser, Jürgen (jl)

7. Königshoven Der Ortsteil der Stadt Bedburg siedelte Ende der 1970er Jahre in die Nähe von Kaster um. Beschlossen worden war die Umsiedlung zu Gunsten des Tagebaus in Frimmersdorf bereits 1970. Eine Bürgerversammlung beschloss eine geschlossene Umsiedlung. Das neue Königshoven liegt etwa sieben Kilometer von dem ursprünglichen Ort entfernt. Der erste Spatenstich leitete 1976 den Neubau des Ortes ein. 1978 fand im alten Königshoven die letzte Osterprozession statt. Die neue katholische Pfarrkirche St. Peter wurde 1980 eingeweiht.

8. Garzweiler 1984 begann die Umsiedlung der Bewohner des Jüchener Stadtteils. Ein Gebiet im Norden der Stadt war als Fläche für das neue Garzweiler bestimmt worden. 60 Prozent der Bevölkerung von Alt-Garzweiler zog nach Neu-Garzweiler (heute wieder nur Garzweiler genannt).1987 schloss die Grundschule. Alle verlassenen Gebäude und Wohnhäuser wurden direkt abgerissen. So auch die Kirche im Jahr 1989. Taufbecken, Orgel und Fenster fanden Platz in der neuen Dorfkirche. Ebenso wurde der alte Friedhof mit jüdischen Gräbern umgesiedelt. Der verlassene Ort diente später als Motiv für einige Künstler und Fotografen, die den Anblick des Geisterortes dokumentierten.

9. Priesterath Das sogenannte Straßendorf lag an der Strecke zwischen Garzweiler und Jüchen. In den Jahren 1984 bis 1989 siedelten die Bewohner um und fanden in einem neuen Wohngebiet in Jüchen eine neue Heimat. Der Straßenname der Siedlung wurde nach dem alten Dorf benannt.

10. Stolzenberg Genauso wie mit dem Dorf Priesterath wurde mit Stolzenberg verfahren. In Jüchen gibt es daher ein Wohngebiet "Stolzenberg".

Garzweiler II

Zu Beginn der 1990er Jahre lebten rund 7600 Menschen in 13 Dörfern in dem Gebiet von Garzweiler II. Nachdem mit Otzenrath, Holz und Spenrath der erste Abschnitt bereits umgesiedelt worden ist, läuft derzeit die Umsiedlung von weiteren 1850 Menschen aus Pesch, Lützerath, Immerath und Borschemich. Weitere rund 1600 folgen noch mit Keyenberg und den Nachbardörfern.

11. Otzenrath Die Bewohner wurden gemeinsam mit denen von Spenrath umgesiedelt. Bereits seit den 1980er Jahren wussten die Bürger von der drohenden Umsiedlung wegen des Tagebaus. Sie demonstrierten mit Lichterketten, allerdings erfolglos. Ab 2000 begann die Umsiedlung von etwa 80 Prozent der Bewohner. Mehr als 2400 Einwohner von Otzenrath, Spenrath und Holz hatten sich für einen gemeinsamen neuen Wohnort entschieden. Im Jahr 2007 war der Prozess abgeschlossen. Der Abriss der Grundschule besiegelte das Ende von Otzenrath. Naturschützer vom BUND besetzten 2008 noch einige Felder, mussten aber auch weichen.

12. Holz Seit 2011 wird auf dem Gebiet von Holz Braunkohle abgebaut. Damals wurde mit dem Wasserturm auch der letzte Teil des Ortes gesprengt. Die Bewohner leben in Neu-Holz. Die Umsiedlung lief zwischen den Jahren 2000 und 2006.

13. Spenrath Der Ort ist seit 2012 komplett entvölkert. 2013 folgte der Abriss des letzten Gebäudes, eines Gutshofes.

14. Pesch Die Bewohner von Pesch sind teils in das Neubaugebiet Pescher Kamp in Kückhoven gezogen. Viele zogen aber ganz woanders hin. Eine geschlossene Umsiedlung fand in dem Fall nicht statt. Ab 2006 zogen die Bewohner weg. Straßen und Bahntrassen wurden eingeebnet. Haus Pesch wurde 2011 abgerissen. 2014 rückten die Bagger für die letzten Häuser an. Jetzt wird auf der Fläche Braunkohle abgebaut.

15. Lützerath Im Norden von Immerath (alt) liegt der kleine Weiler Lützerath. Seit dem Jahr 2006 wird der Weiler umgesiedelt - nach Immerath (neu). In den vergangenen Jahren war immer wieder unklar, ob die Fläche tatsächlich für den Tagebau genutzt wird. Außerdem prostetierten Bürger und Politiker gegen die Umsiedlung: Auch weil sie befürchteten, dass die Entschädigungen nicht reichen, um in Immerath (neu) tatsächlich neu zu bauen. Inzwischen steht aber fest, dass ab 2017 Kohle abgebaggert wird.

16. Immerath Die Umsiedlung der 1400 Immerather wird schon bald abgeschlossen sein. Schon jetzt hört man in dem alten Dorf nur die Abrissbagger für den Tagebau Garzweiler II. Ansonsten herrscht meist Stille. Nur noch wenige Gebäude stehen. Das Krankenhaus ist in den vergangenen Tagen inzwischen fast vollständig den Baggern zum Opfer gefallen, der "Immerather Dom" wird folgen. Nach Auskunft von RWE Power steht noch kein Termin fest, sicher sei aber, dass das "nicht in diesem Jahr geschehen wird", erklärte RWE-Sprecherin Stephanie Möller gestern. Begonnen hatte die Umsiedlung 2006. Zehn Jahre später ist der Ort so gut wie ausgestorben. Der Abriss weiter Teile des alten Dorfes hatte 2013 begonnen.

17. Borschemich Vor 109 Jahren hatten die Borschemicher den Grundstein für die St.-Martinus-Kirche gelegt. Jetzt ist sie Stück für Stück eingerissen worden. RWE hatte die Kirche 2013 gekauft und 2014 wurde sie entweiht. Die neue Kirche in Borschemich (neu) wurde in einer emotionalen Feier 2015 bereits eingeweiht. Und im neuen Ort wohnen auch schon die meisten Borschemicher. Derzeit findet dort der Straßenendausbau statt. Ihre alte Heimat weicht dem Braunkohleabbau bis 2017 gänzlich. Bereits am 1. Dezember 2015 war das 1100 Jahre alte Rittergut Haus Paland abgerissen worden. Nur wenige Teile des Ritterguts und der Kirche bleiben am neuen Ort erhalten.

18.-22. In den kommenden Jahren werden noch Berverath, Keyenberg, Kuckum, Oberwestrich und Unterwestrich umgesiedelt. Auf die Umsiedlung von Holzweiler will die nordrhein-westfälische Landesregierung verzichten.

(RP)
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