Verantwortliche schieben sich die Schuld zu Loveparade-Tragödie: Das Protokoll des Versagens

Verantwortliche schieben sich die Schuld zu · Nach der Katastrophe bei der Loveparade in Duisburg verdichten sich die Hinweise auf verhängnisvolle Nachlässigkeiten und Pannen. Aus Dokumenten, die unserer Redaktion vorliegen, geht hervor, dass Stadt, Veranstalter und Polizei das Sicherheitskonzept gemeinsam beschlossen hatten. Nach übereinstimmenden Berichten aus Duisburg sollen Bedenken wegen Sicherheitsmängeln unter den Tisch gefallen sein. Der Druck auf Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) wird immer stärker.

Die Kerze, die am Kondolenztisch brennt, trägt einen schwarzen Trauerflor. Sevket Avci, der Vorsitzende des Integrationsrats der Stadt Duisburg, trägt sich in das Buch ein. Das Unglück sei ein Ereignis, das nun "alle in Duisburg bewältigen" müssten, schreibt Avci. Andere Einträge sind weniger freundlich. Jörg Conradi schreibt: "Ich verlange sofortige Aufklärung. Alle Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden."

Tag zwei nach der Katastrophe. In Duisburg ist die Stimmung angeheizt. Zwei Sicherheitskräfte des Ordnungsamts, mit Handfesseln bewaffnet, sichern den Aufgang zur ersten Etage des Duisburger Rathauses. Dort hat Oberbürgermeister Adolf Sauerland (55) sein Büro. Es soll eine Morddrohung gegen ihn gegeben haben. Aufgebrachte Passanten haben den CDU-Politiker schon am Sonntag beim Besuch der Unglücksstelle am Tunnel attackiert. Noch ist Sauerland im Amt.

Schriftliche Dienstanweisung

"Wir wissen nichts, wir sagen nichts" - seit Montag ist die traurige Verteidigungslinie der Duisburger Stadtverwaltung offizieller Marschbefehl. Planungsdezernent Jürgen Dressler (64), der die Genehmigung für die tödliche Party erteilt hatte, erlässt an die Mitarbeiter seiner Behörde eine schriftliche Dienstanweisung. Keine Informationen nach außen, heißt die Parole. Und zwar unter Androhung "disziplinarischer Konsequenzen".

Montag, 15.43 Uhr: Dressler kommt aus einer Krisensitzung mit allen verfügbaren Spitzen der Stadt. Er will durch eine schwere Holztür in sein Büro im ersten Stock des wuchtigen Duisburger Stadthauses verschwinden. Sein weißes Falke-Poloshirt steckt akkurat in einer grauen Bundfalten-Hose. "Bitte haben Sie Verständnis, dass ich nichts sage", sagt er. "Der Staatsanwalt ermittelt in einer Strafsache, und ich muss meine Mitarbeiter schützen."

Aber dann sprudelt es aus dem gebürtigen Wuppertaler heraus. "Jetzt schieben sich alle gegenseitig die Schuld zu, und keiner will es gewesen sein", sagt Dressler.

Welchen Teil der Verantwortung trägt er? "Ja, ich habe die Genehmigung für die Massenveranstaltung erteilt", gibt der studierte Architekt zu. Seine Genehmigung habe sich aber nur auf den engeren Bereich des stillgelegten Duisburger Güterbahnhofes bezogen, auf dem auch die Bühne stand. Der Bereich des Tunnels und der Treppe, in dem Menschen zu Tode gequetscht worden sind, "gehörten nicht zu dem von mir genehmigten Bereich", sagt Dressler. Dafür seien Polizei, Veranstalter und Feuerwehr verantwortlich gewesen. Dieser Punkt ist Dressler so wichtig, dass er einen Kugelschreiber greift und das Unglücksgelände auf einem Stück Papier skizziert. "Um es ganz deutlich zu machen", sagt er dabei.

Bahn kündigte 350 Züge an

Dressler will die Genehmigung auch nur unter der Auflage erteilt haben, dass sich auf dem Loveparade-Gelände nie mehr als 250.000 Menschen zugleich aufhalten würden. "Dazu ist es ja auch nicht gekommen", rechtfertigt sich der Spitzenbeamte. "Das zeigen uns alle bislang ausgewerteten Bilder."

Schließlich habe die Bahn ihm auch nur "350 anreisende Züge mit je im Schnitt 800 Personen angekündigt", und zwar verteilt über einen Zeitraum von 18 Stunden. "Auf dieser Grundlage bin ich davon ausgegangen, dass die Kapazität des Geländes ausreicht", so Dressler.

Die Umzäunung des Gesamtgeländes, die den tödlichen Kessel am Tunnel zusätzlich unter Druck gesetzt hat, sei "eine Anforderung der Bahn" gewesen, so Dressler: "Die hatten Angst, dass die Teilnehmer in den Zügen die Notbremse ziehen und dann aus den Zügen von hinten direkt auf die Bühne strömen."

Wie kam es letztlich zu der Katastrophe? Dressler kratzt sich am Hinterkopf. Nach seiner Einschätzung hat "augenscheinlich", auf diese Einschränkung legt er Wert, "eine Kommunikationspanne bei Polizei und Veranstaltern am Tunnel" zu der Katastrophe geführt. Als zu viele Menschen auf das Gelände strömten, sei der Tunnel einseitig gesperrt worden. "Da hat man wohl vergessen, die andere Seite auch zu sperren, sodass immer mehr Menschen hineingedrängt sind", vermutet Dressler.

Vorwürfe gegen Polizei

Ein Mitarbeiter des Krisenstabes, der aus Angst vor Repressionen ungenannt bleiben möchte, bestätigt diese Version im Gespräch mit unserer Redaktion. "Als der Tunnel auf der einen Seite dicht war, strömten immer mehr Menschen auf die wartende Masse", schildert er die Situation.

Dann suchte eine Gruppe von Ravern nach einem Ausweg. Die Eingeschlossenen versuchten, einen Absperrzaun aus Metall zu durchbrechen. Dann habe "die Polizei eine Kette gebildet, um diesen Ausbruch zu verhindern", berichtet das Mitglied des Krisenstabes.

Eine fatale Fehlentscheidung? Er beruft sich auf Videos des Veranstalters, die inzwischen der Staatsanwaltschaft vorliegen. In der Tat lichtet sich nach Auswertung der Videobilder, die die dramatischen Abläufe vom Samstagnachmittag dokumentieren, der Nebel über dem Dickicht des Versagens.
Berichte, nach denen offenbar auch die Polizei mitverantwortlich für die Katastrophe sein könnte, mehren sich. Auch der Paraden-Besucher Tom De Silva (19) aus Kerpen hat beobachtet, wie die Polizei gegen 16 Uhr ihre Absperrkette vor dem Unglückstunnel aufhob und so erst den Zustrom in die enge Röhre ermöglichte.

Auf der anderen Seite, wo Polizei und private Ordner gemeinsam den Zugang zum Gelände regelten, sei der Eingang aber gleichzeitig dichtgemacht worden. "Dadurch ist es zur Panik gekommen, und die Leute haben versucht, über Masten und eine Treppe wegzukommen."

Hinweise auf Sicherheitsrisiken

Im Gegensatz zu den Beteuerungen der Offiziellen hatten im Vorfeld des Techno-Spektakels in Duisburg viele Experten auf Sicherheitsrisiken hingewiesen. "Ich und viele andere Menschen aus der Duisburger Party-Szene hatten im Vorfeld Bedenken, ob das Gelände groß genug sein würde", sagt zum Beispiel Jens Thiem.

Der Duisburger Event-Manager ist bei der Loveparade auf einem eigenen Wagen mitgefahren. Nur bei informellen Gesprächen im Jahr 2008 wurde Thiem, der sich in der Stadt genau auskennt und auch als Veranstalter an den beiden Ruhrgebiets-Loveparades in Essen und Dortmund teilgenommen hat, von einem der Duisburger Planer um Rat gefragt.

Als Thiem von den endgültigen Plänen erfuhr und die Quadratmeterzahl des Geländes bekannt wurde, war er beunruhigt. "Genau wie die anderen Veranstalter auch", sagt er. "Es war uns klar, dass da viel schief gehen kann." Für Thiem stand schon vor Samstag fest, dass das Gelände im Laufe des Tages wegen Überfüllung geschlossen werden würde. "Wir haben unseren Float-Gästen gesagt, dass sie deshalb besonders früh anreisen sollten."

Andere Veranstalter verwundert

Auch andere Veranstalter wunderten sich über die laxen Vorbereitungen: "Viele Event-Manager, die zur Loveparade eigene Partys organisiert hatten, waren bereits im Vorfeld besorgt über die Sicherheit auf dem Gelände und haben das auch untereinander geäußert", sagt Mirco Hering.

"Einige haben sogar gesagt, man solle die Loveparade besser absagen, eine solche Massenveranstaltung auf diesem Gelände - das könne nicht funktionieren." Hering ist einer der Organisatoren der "Summer-Night Lounge"-Partys im Landschaftspark Duisburg und bereits seit mehr als zehn Jahren Event-Manager. "Eigentlich ist es selbstverständlich, dass es bei größeren Partys mit mehr als 100 000 Besuchern mehrere Zu- und Ausgänge an dem Gelände geben muss."

Die Auflagen für seine Partys mit weitaus weniger Besuchern seien viel höher als die Sicherheitsvorkehrungen, die von den Organisatoren der Loveparade getroffen wurden. "Auch bei den Loveparades in Berlin, Essen und Dortmund konnten die Besucher von allen Seiten auf den Paradeweg gelangen", sagt Hering. "Deshalb hatten wir alle ein mulmiges Gefühl im Magen, als wir einige Tage vor der Loveparade den Aufbau von der A 59 aus beobachtet haben."

Warnende Stimmen bei der Polizei

Auch bei der Polizei gab es warnende Stimmen. "Viele Kollegen hatten Bedenken wegen des kleinen Geländes und der engen Zu- und Abgänge", berichtet Wilfried Albishausen, Landesvorsitzender des Bunds deutscher Kriminalbeamter. "Darüber ist intern auch gesprochen worden. Die Bedenken wurden aber regelrecht weichgespült."

Woran lag das? Am Machtgefüge in der Ruhrmetropole? Der Oberbürgermeister soll vehement auf die Loveparade bestanden haben. Angeblich sollen Polizei und Feuerwehr sich ausdrücklich für eine großflächigere Zugangsregelung eingesetzt haben. Dies sollen Vertreter der Stadt aber abgelehnt haben. Angeblich wegen zu hoher Kosten. Offiziell bestätigen will das niemand.

"Kein Kommentar", hieß es am Montag dazu im Vorzimmer des Duisburger Feuerwehr-Chefs Uwe Zimmermann. Albishausen erklärt, warum die Polizei machtlos war: "Eine Demonstration hätte der Polizeipräsident verbieten können, nicht aber die Loveparade. In so einem Fall kann die Polizei nur noch versuchen, das Beste aus der Sache zu machen." Sein Fazit: "Die Veranstaltung hätte niemals stattfinden dürfen."

Der Druck der Öffentlichkeit auf OB Sauerland wächst. Laut Medienberichten unterschrieb er die "ordnungsbehördliche Erlaubnis" erst am Samstagmorgen um neun Uhr, weil noch am Freitag bis spät in die Nacht über das Sicherheitskonzept debattiert worden sei. Berufsfeuerwehr und Polizisten hätten in einer Krisensitzung deutlich gemacht, dass die Großveranstaltung so nicht stattfinden könne. Sauerland trat dieser Darstellung gestern energisch entgegen.

Zweites Sicherheitsgutachten

Kritik an der Stadt Duisburg äußern auch Frank Richter (Gewerkschaft der Polizei) und Rainer Wendt (Deutsche Polizeigewerkschaft). Wendts Vermutung, die Stadt habe möglicherweise unter dem Druck des Veranstalters gestanden, wird durch ein wichtiges Detail bestätigt: Drei Wochen vor Beginn der Loveparade wurde ein zweites Sicherheitsgutachten für eine Noträumung angeordnet. So etwas ist nur üblich, wenn Veranstalter und Stadt sich nicht einigen können.

Michael Schreckenberg, Stau- und Panikforscher, hat nach zwei Morddrohungen die Polizei eingeschaltet. Der Wissenschaftler hatte das Sicherheitskonzept für den Zuständigkeitsbereich der Stadt abgenickt und sich anfangs auch teils zustimmend zur Wahl des Veranstaltungsortes und seiner Zugangswege geäußert. Am Montag stellte er klar: "Mit den Sicherheitsmaßnahmen am Tunnel hatte ich mich nicht befasst. Das war eindeutig Sache der Veranstalter."

Am Tag zwei nach der Katastrophe rücken zwei Fragen ins Zentrum. Wer hatte das Krisenmanagement an dem Unglückstunnel zu verantworten, als die Situation eskalierte? Und wer hat im Vorfeld dieses Gebiet als erweitertes Veranstaltungsgelände genehmigt? Die Staatsanwaltschaft Duisburg hat am Sonntag sämtliche Genehmigungsunterlagen der Stadt für die Loveparade beschlagnahmt.

Aber aus den städtischen Vorlagen und Protokollen, die unserer Redaktion vorliegen, kommt eine grenzenlose Sorglosigkeit zum Eindruck. So heißt es in einer Zusammenfassung des Ordungsamtes vom 10. Dezember 2009 zur "An- und Abreise", die "direkte Nähe der Veranstaltungsfläche zum Bahnhof wurde als Vorteil angesehen".

Später wurde der vermeintliche Vorteil in demselben Dokument schon zur "Herausforderung". Weiter heißt es: "Zur Sicherung des Zugverkehrs und der Besucher muss daher mit Zäunen verhindert werden, dass die Gleise von dem Gelände aus betreten werden können." Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft, ob die Zäune Fluchtwege verbauten.

Cebin mit Sicherheitsbedenken

Auch aus einer Mitteilung des Ordnungsamts (Drucksache 10-0089/1) geht die Blauäugigkeit im Umgang mit möglichen Sicherheitsproblemen hervor. So werden mit Datum vom 1 .Juni 2010 unter der Überschrift "Zu- und Abgänge zum Veranstaltungsgelände" zwei Wege festgelegt: "Laufstrecke West" und "Laufstrecke Ost" münden in der Karl-Lehr-Straße.

"Im Tunnel Eingang zum Gelände", heißt es. Es würden "Absperrungen und Ordner zur Besucherlenkung eingesetzt". Der Streckenverlauf ist in einer Anlage des Dokuments dargestellt. Die gefährliche Nadelöhr-Situation war also in den Unterlagen des Ordungsamts dokumentiert und auch einsehbar. Die Brisanz wurde von den Verantwortlichen bei der Stadt nicht erkannt.

Auch der mittlerweile in Ruhestand gegangene Polizeipräsident Rolf Cebin (SPD) soll sich bereits 2009 wegen Sicherheitsbedenken heftig gegen die Austragung der Loveparade gewandt haben. Der Duisburger CDU-Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Thomas Mahlberg hatte daraufhin in einem Schreiben an den ehemaligen Innenminister Ingo Wolf (FDP) die Absetzung Cebins gefordert.

"Die Duisburger Polizei ließ erklären, eklatante Sicherheitsmängel stünden der Durchführung der Loveparade entgegen. Eine Negativberichterstattung in der gesamten Republik ist die Folge", heißt es in dem Brief. Wolf solle nun einen "personellen Neuanfang im Polizeipräsidium Duisburg" wagen.

Anzeige gegen Sauerland

Der ehemalige Bochumer Polizeipräsident Thomas Wenner, der 2009 die Loveparade in Bochum aus Sicherheitsgründen verhinderte, hat noch am Sonntag per E-Mail Anzeige gegen den Duisburger OB Sauerland erstattet. Am Montag reichte er ein schriftliches Duplikat seiner Anzeige nach, wie Wenner gegenüber unserer Redaktion sagte. Wenner: "Dass das schiefgehen musste, konnten sogar Laien erkennen. Dafür braucht man nicht mal einen Planungsstab."

Nach der Massenpanikrechnen die Ermittler nicht mit einer raschen Klärung der Ursache. "Das wird Wochen, wenn nicht Monate dauern", sagte Staatsanwalt Rolf Haferkamp. Es müssten viele Zeugen ausfindig gemacht und befragt werden. Zudem würden Fotos und Videos vom Unglücksort ausgewertet.

(RP)
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