Duisburg Heimspiel in der Vaterstadt

Duisburg · Lesung des Duisburger Autors Sascha Reh in der Zentralbibliothek.

Duisburg: Heimspiel in der Vaterstadt
Foto: Sven Lison

Die Lesung im Stadtfenster im Rahmen der Veranstaltungsreihe des Vereins für Literatur Duisburgs hätte termingenauer nicht platziert sein können: Zwei Tage vor dem 11. September 1973, dem Militärputsch in Chile vor 43 Jahren, stellte der in Duisburg geborene Autor Sascha Reh seinen 2015 erschienenen, vielbeachteten und vielgelesenen Roman "Gegen die Zeit" in der Zentralbibliothek vor. Im selben Jahr erhielt er den Literaturpreis Ruhr für sein Gesamtwerk, zu dem unter anderem auch seine beiden früheren Romane "Falscher Frühling" (2010) und "Gibraltar" (2013) zählen.

Gewidmet ist sein neues Buch den Opfern der chilenischen Diktatur, die von 1973 bis 1989 andauerte. Der 11. September sei, so Bibliotheksdirektor Dr. Barbian in seiner Einführung, in der amerikanischen Geschichte zweifach besetzt: 1973 als (Mit)Täter des militärischen Umsturzes durch die CIA, 2001 als Opfer des terroristischen Anschlags auf das ehemalige World Trade Center.

Reh, der Jahrgang 1974 ist, habe sich, sagt er, mit dem Stoff der Jahre 1970 bis 1973, also der Zeit der Regierung von Präsident Salvador Allende, vor etwa zwölf Jahren befasst. Ausgangspunkt seiner Recherche über jene Zeit waren zunächst aber nicht die politischen Verhältnisse in Chile, sondern ein industrie-technisches Managementprojekt namens "Cybersyn". Dabei handelte es sich um ein visionäres Computernetzwerk, das die damals 400 wichtigsten Fabriken des Landes miteinander verbinden und von einer futuristischen Kommandozentrale, nämlich der Wirtschaftsförderungsbehörde CORFO, gesteuert werden sollte. Soweit die damalige Realität.

Aber auch die Abfolge der politischen Ereignisse der Ära Allendes, so der Autor weiter, seien weitgehend authentisch. Da er aber seine Recherche nicht in allen Belangen faktisch sichern konnte, musste seine Geschichte mit den dazugehörigen Namen Fiktion bleiben. Doch auch das meisterte Reh in seinem lesenswerten Roman höchst bemerkenswert.

Zentrale Figur darin ist der deutsche Industriedesigner Hans Everding, der nach dem Putsch und der anschließenden Militärdiktatur auf der Flucht ist. Grund dafür, so die Handlung weiter, ist ein Koffer, der voller wichtiger Dokumente, Magnetbänder und Lochstreifen ist. Um genau diesen Koffer ging es in seiner ersten Bibliothekslesung in seiner Heimatstadt, dieser stand im Zentrum seines Vortrags. Er war der rote Faden der Veranstaltung, obwohl der Roman auch eine Liebesgeschichte beinhaltet, nämlich die zwischen Hans und Ana, seiner Arbeitskollegin und Geliebten. Rehs Lesung begann mit dem Kapitel "0000 - 11. September 1973", sprich Hans' und Óscars Flucht vor den Militärs. Óscar war der technische Leiter des Computerprojekts. Reh hat, wie er zu verstehen gab, in seinem Roman bewusst offengelassen, welches dezidierte Interesse die neuen chilenischen Machthaber an dem besagten Kybernetik-Projekt gehabt hatten. Anschließend las er aus Kapitel "0110 - Plan Z" das Gespräch - oder ist es nicht vielmehr ein Verhör - zwischen Everding und dem Offizier Brauer, der geheime und enttarnende Dinge über ihn und "Cybersyn" in Erfahrung bringen will.

Zum Schluss der Lesung (nicht des Buches) folgte ein großer Zeitsprung von über 100 Druckseiten bis zu Kapitel "1100 - Algedonische Schleife". Darin geht es zum einen um das Wiedersehen zwischen Hans und Ana und gleichzeitig um deren beider Verhaftung. Es folgte eine beklemmende Textpassage, eine nicht reißerisch aufgemachte Beschreibung einer höchst grausamen Folterszene von Ana, die im Kern aber Hans galt, weil dieser Brauer sagen sollte, wo denn der gesuchte Koffer und das sich darin befindliche Magnetband ist. Dazu schreibt der Autor an dieser Stelle: "(Brauer) beugte sich zu mir herunter, seine Stimme war leise vor Bedauern. 'Ich bin sehr enttäuscht von dir, Junge. Sehr enttäuscht.' (...) Ich versuchte, durch ihn hindurchzusehen; er stand dicht vor meinem Gesicht. 'Wo ist das Band?' Was immer es ist, beschwor ich mich: Du bist stumm. (...) Der Horror kennt keine Zeit, weil er nicht messbar ist."

Der Roman erinnert zwar an ein historisches Experiment, er ist zugleich aber auch eine verallgemeinerbare Geschichte über Aufbruch und Enttäuschung, Vertrauen und Verrat. Für den Autor wurde die Duisburger Lesung zu einem gelungenen Heimspiel in seiner Vaterstadt.

(RP)
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