Duisburg Grosser sieht Europa vereint in der Bedrohung

Duisburg · Der Mann ist 92 Jahre alt, spricht 80 Minuten frei und im Stehen, stützt sich dabei nur leicht auf die vordersten Kirchenbänke in der gut gefüllten Salvatorkirche. Der deutsch-französische Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Alfred Grosser war wieder einmal in der Stadt, referierte zur Frage "Gibt es noch ein europäisches Haus?"

 Alfred Grosser referierte in der Salvatorkirche.

Alfred Grosser referierte in der Salvatorkirche.

Foto: Frank RumPENHORST

Sein Vater Paul Grosser (1880-1934) war Direktor einer Frankfurter Kinderklinik, Sozialdemokrat und jüdischer Herkunft, außerdem Freimaurer, weshalb er 1933 mit seiner Familie nach Frankreich emigrierte. 1937, also vor 80 Jahren, wurde Alfred Grossers verwitweter Mutter und somit auch ihm die französische Staatsbürgerschaft verliehen, was sie davor bewahrte, im September 1939 wie die anderen von Hitler verfolgten Deutschen als "feindliche Ausländer" in französischen Lagern interniert zu werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zur Galionsfigur der Aussöhnung zwischen den Völkern, vor allem zwischen Deutschland und Frankreich.

"Wir Politologen wissen immer hinterher, was man hätte vorhersehen können", witzelte Grosser in der Salvatorkirche und zeigte dabei wieder einmal, dass er sich ebenso unabhängig wie streng an die Fakten hält, auch wenn diese unangenehm sind. Oft leitet er seine Sätze ein mit "Es wird oft vergessen, dass..." oder "Es wird zu wenig darüber berichtet, dass..." Gerne spitzt er seine Thesen provokant zu, vor allem zu Beginn seines Vortrags: "Toleranz war nie besonders katholisch - der ,Islamische Staat' hat viel geköpft, aber immer noch sehr viel weniger als zum Beispiel Karl der Große bei den Sachsen", sagt er als nach eigener Aussage "jüdisch geborener Atheist mit Verbindung zum Christentum".

Den Brexit und den neuen US-Präsidenten Trump findet Grosser natürlich entsetzlich, vor allem weil beide unberechenbar sind. Aber beide hätten sie ein Gutes, nämlich die müde gewordene Europäische Union wieder enger zusammenzubringen. Er hält ein zweites Referendum in Großbritannien für wahrscheinlich, denn im Verlauf der Austrittsverhandlungen werde es der britischen Premierministerin klar werden, dass man nur ganz drin oder ganz draußen sein könne. Und Trump habe heute eine ähnliche Funktion wie seinerzeit Stalin, wegen dem auch Westdeutschland in die Wertegemeinschaft Westeuropa aufgenommen worden sei.

(hod)
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