Duisburg Fängen der Nazis knapp entkommen

Duisburg · Gestern kam Kurt Herzstein (93) zusammen mit seiner Frau Shirley aus dem kanadischen Toronto nach Duisburg, um die befreundete Familie Leinemann zu besuchen. Nur durch Zufall hatte Herzstein den Nazi-Terror überlebt.

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich Kurt Herzstein überwinden konnte, wieder einmal nach Deutschland zu kommen. Das ist nur zu verständlich, wenn man seine Lebensgeschichte hört. Erzählt hat sie Kurt Herzstein der RP gestern Nachmittag im Kultur- und Stadthistorischen Museum. Das Gespräch vermittelten Waltraud und Franz Leinemann, die seit 1994 mit Kurt Herzstein und seiner Frau Shirley befreundet sind und die sich mindestens einmal im Jahr, irgendwo auf der Welt, treffen.

Der Name Herzstein wird einigen Duisburgern bekannt sein. Vor 13 Jahren wurde an der Lahnstraße 35 ein "Stolperstein" zum Gedenken an Herta Herzfeld, Muter von Kurt, gesetzt. Herta Herzstein, 1896 in Ruhrort geboren, war Vorstandsmitglied sowie Schriftführerin des Jüdischen Frauenbundes und Mitglied im Israelischen Frauenverein. Sie floh vor den Nazis nach Amsterdam. Überliefert sind ihre Briefe an den Duisburger Rabbiner Manass Neumark, der Frau Herzstein immer wieder für ihre liebevolle Fürsorge und die Hilfspakete aus Amsterdam dankte. Bei einer Razzia wurde Herta Herzstein in Amsterdam von den einmarschierten Nazis verhaftet. Sie starb am 16. Juli 1943 im Vernichtungslager Sobibor.

Ihr Sohn Kurt ist den Fängen der Nazi knapp entkommen. Nur fünf Minuten, bevor die Nazis in seinem jüdischen Sportverein in Amsterdam zu einer Razzia anrückten, hatte Kurt das Gebäude zufällig verlassen. An dem Tag endete für Kurt auch das schöne Leben in den Niederlanden. Dort hatte er sich sehr wohl gefühlt, wie er gestern erzählte. 1938 war er aus Duisburg nach Amsterdam gekommen, wo er in einer Art Auffangklasse zunächst die niederländische Sprache lernte, bevor er dort eine reguläre Schule besuchte. "Die Amsterdamer Jahre habe ich in guter Erinnerung", sagte er gestern. Mit seinen Klassenkameraden sei er gut ausgekommen. Gut verstanden habe er sich auch mit seinen Mitschülern am Duisburger Realgymnasium, dem Vorläufer des heutigen Steinbart-Gymnasiums. Unter den Mitschülern war auch Fritz Zimmermann, Vater des weltbekannten Geigers Frank Peter Zimmann. In Duisburg war Kurt Herzstein bis 1938, also bis zu seinem 14. Lebensjahr, ein ganz normaler Schüler. Nur ein Nazi-Lehrer habe Schwierigkeiten gemacht. Wenn dieser in der "Geschichtsstunde" seine Nazipropaganda auf die Schüler herabließ, habe er ihn und seinen jüdischen Freund, der wegen seiner Fußballkünste bei allen sehr beliebt war, aus dem Klassenraum geschickt. Im Zeugnis habe er den beiden dann "mangelhafte Beteiligung am Unterricht" vorgeworfen...

Am 4. August 1941 begann für Kurt Herzstein der abenteuerliche Abschied von Europa. Von niederländischen Widerstandskämpfern wurde Kurt in einen Zug gesetzt, sicherheitshalber in die erste Klasse, der über Paris ins spanische Bilbao fuhr. Von dort aus erreichte Kurt ein Postschiff, das ihn und weitere 500 Flüchtlinge nach Kuba fuhr. In Havanna lebte Kurt in einem Studentenwohnheim. Er lernte Spanisch und machte in Havanna auch seinen Schulabschluss, der mit dem Abitur zu vergleichen ist.

Nach einigen Mühen und mit der Unterstützung eines in Kanada lebenden Onkels bekam er 1944 das begehrte Visum und gelangte nach Kanada. Dort arbeitete er zunächst in einem Provinznest in einer Brauerei, später dann auf einer großen Farm, wo er täglich zig Kühe zu melken hatte. Zwei Jahre lang dauerte dieses ungeordnete Berufsleben. Dann wurde Kurt Herzstein von den Behörden endlich erlaubt, nach Montreal und schließlich Toronto zu ziehen. Dort macht sich Kurt als Geschäftsmann im hochwertigen Audiobereich selbstständig - offenbar mit großem Erfolg, wie das Ehepaar Leinemann, am bescheiden auftretenden Kurt Herzstein vorbei, versichern.

1955 haben Shirley und Kurt geheiratet. Die beiden haben zwei Söhne und Enkel, die allesamt in ihrer Nähe leben, was Kurt und Shirley Herzstein mit Freuden betonen.

Als Kurt Herzstein aus beruflichen Gründen 1983 nach Dänemark fliegen musste, rang er das erste Mal mit sich, seine alte Heimat zu besuchen. Ein Jahr später reiste er mit seiner Frau von Toronto nach Deutschland. Diese Reise war keine gewöhnliche: Mit Shirley suchte Kurt Herzstein alle Orte seiner Flucht noch einmal auf: von Duisburg nach Amsterdam, von dort nach Paris bis Spanien. Und von dort wiederum nach Havanna, wo sie schließlich in ein Flugzeug nach Kanada stiegen.

Im Jahr 1994 wurden ehemalige jüdische Mitbürger auf Initiative von Oberbürgermeister Krings eingeladen, ihre alte Duisburger Heimat zu besuchen. Die Leinemanns waren damals Gastgeber der Herzsteins. Seitdem sind die beiden Paare befreundet.

(pk)
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