Anne Kahlert Und Klaus Friede Es gibt einfach noch zu wenig Sonderpädagogen

Duisburg · Behinderte Kinder dürfen heute jede Schule besuchen. Das bringt neue Herausforderungen. Ein Gespräch mit zwei Schulleitern.

 Sonderpädagogen werden für die Inklusion dringend gebraucht. In NRW gibt es aber nur zwei Ausbildungsorte dafür.

Sonderpädagogen werden für die Inklusion dringend gebraucht. In NRW gibt es aber nur zwei Ausbildungsorte dafür.

Foto: Jonas Güttler/dpa

Huckingen Regelschulen sollen heute Inklusion betreiben, also jeden Schüler nach seinen Lernmöglichkeiten und Fähigkeiten fördern, auch bei Handicaps. Über Chancen und Probleme, die sich daraus ergeben, sprach Martin Kleinwächter mit den Schulleitern Anne Kahlert (Sekundarschule Süd) und Klaus Friede (Realschule Süd).

 Anne Kahlert von der Sekundarschule Süd und Klaus Friede von der Realschule Süd im Gespräch.

Anne Kahlert von der Sekundarschule Süd und Klaus Friede von der Realschule Süd im Gespräch.

Foto: Lars Heidrich

Bezieht sich Inklusion auf alle Handicaps, also auf Blindheit ebenso wie auf geistige Behinderung und auf Verhaltensprobleme?

Friede Grundsätzlich ja, wobei die Eltern frei wählen können, ob sie ihr Kind auf eine Regelschule oder eine Förderschule schicken.

Wie sieht das praktisch aus?

Friede Wir haben seit dem fünften Schuljahr ein Mädchen, das im Rollstuhl sitzt. Es hat eine Integrationshelferin. Sie unterstützt es bei allen praktischen Verrichtungen. Dann kommt noch drei Stunden pro Woche eine Sonderschullehrerin, die die Schülerin pädagogisch betreut.

Kahlert Regelschule oder Förderschule, was für das jeweilige Kind das Beste ist, muss im Einzelfall entschieden werden. Bei Schwerst- und Mehrfachbehinderungen könnte eine Förderschule der geeignetere Ort sein.

Friede Ich wüsste keine Regelschule, an der solche Kinder sind. Da haben die Förderschulen ganz andere Möglichkeiten. Das sehen auch die Eltern meist so. KAHLERT Ziel der integrativen Politik ist ja, vor allem die Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung (ES) sowie Sprachentwicklung vorrangig in die Regelschule zu integrieren.

Friede Und das ist häufig auch der Wunsch der Eltern, weil die Kinder ja schon gemeinsam in der Grundschule waren.

Der Leiter einer Förderschule für ES wunderte sich vor Jahren, wie es mit seinen Schülern an einer Regelschule klappen soll. Wie klappt es?

Kahlert Wir hatten zu Schulbeginn voriges Jahr sieben Schüler mit Förderbedarf ES. Einer ist inzwischen im Einverständnis mit den Eltern zur Förderschule gewechselt. FRIEDE Und wir haben neun Schüler mit Förderbedarf, darunter sechs mit ES und drei Körperbehinderte - bei insgesamt 320 Schülern in den betroffenen Klassen.

Ist der Wechsel an eine Förderschule überhaupt gegen den Willen der Eltern möglich?

Kahlert Praktisch nicht. Der Schüler müsste schon eine Gefährdung für sich und andere darstellen.

Und wie hoch ist der Anteil der Schüler mit dem Förderbedarf Lernen?

Beide Zur Zeit haben wir keine.

Zurück zu den ES-Kindern. Kann man die überhaupt in normalen Unterricht einbinden?

Friede Diese Schüler haben bei unseren Klassenstärken von bis zu 30 Schülern enorme Schwierigkeiten, weil sie sehr viel Zuwendung benötigen. KAHLERT Die versuchen eben, durch auffälliges Verhalten aufzufallen. Da haben wir es mit maximal 25 Schülern pro Klasse etwas einfacher. Wir würden uns wünschen, wenn ein Team aus Sonderpädagoge und Regelschullehrer gemeinsam unterrichten würde. Aber von diesem Ideal sind wir noch weit entfernt.

Wie kommt ein Kind zu einem Integrationshelfer?

Kahlert Der wird auf Antrag der Eltern vom Jugendamt gestellt. FRIEDE Anlass ist oft, dass die Eltern Hilfe suchen, weil die Kinder in manchen Situationen überfordert sind. Einen anerkannten Förderbedarf kann nur ein Pädagoge leisten. KAHLERT Integrationshelfer sind oft keine ausgebildeten Pädagogen.

Wie wird Förderbedarf festgestellt?

Kahlert Ein Sonderpädagoge kommt an die Schule, beobachtet das Kind, macht mit ihm Tests, wertet sie aus und macht der Bezirksregierung in Düsseldorf einen Vorschlag. Die entscheidet letztlich.

Und wie sieht das dann praktisch an Ihrer Schule aus?

Kahlert Wir haben bei sechs Schülern mit Förderbedarf zwölf Stunden in der Woche, an denen ein Sonderpädagoge an die Schule kommt.

Damit aber kann er doch dem ES-Kind gar nicht ständig die Zuwendung geben, die es benötigt, oder?

Kahlert Deshalb haben bei uns zwei Kinder zusätzlich Integrationshelfer. Der Sonderpädagoge ist vor allem dazu da, einen auf das Kind zugeschnittenen Förderplan aufzustellen. FRIEDE Und um dem Regelschullehrer Hilfestellung zu geben. Denn der ist ja nicht dafür ausgebildet.

Wie sieht unter solchen Umständen der Unterricht aus?

Kahlert Es geht eben nicht mehr so, dass der Lehrer für alle Schüler den gleichen Stoff vorbereitet und durchzieht. Er muss den Unterricht vielmehr sehr differenziert vorbereiten, entsprechend der Leistungs- und Lernfähigkeit der Schüler. Auch die Klassenarbeiten werden individuell darauf abgestellt.

Gibt es also gar keine Probleme bei der Inklusion?

Friede Es gibt zu wenige Sonderpädagogen. Ich hatte im ersten Halbjahr keinen für meine drei Körperbehinderten, bekomme erst in den nächsten Wochen eine Kollegin. KAHLERT: Es gibt nur zwei Ausbildungsorte dafür in NRW. Deshalb wurde jetzt für Regelschullehrer die Möglichkeit geschaffen, sich berufsbegleitend dafür zu qualifizieren.

Müssen Eltern von Kindern ohne Förderbedarf befürchten, dass ihr Kind an der Schule zu kurz kommt?

Kahlert Nein, denn wir haben die Leistungsspanne aller Schüler im Blick. Leistungsstarke Schüler erhalten zusätzliche Herausforderungen. Förderung dient ja nicht nur dem Ausgleich von Defiziten.

Könnten sich leistungsstarke Schüler ohne schwache oder verhaltensauffällige Kinder besser entfalten?

Kahlert Wir wollen ja erreichen, dass die Schwachen auch gesamtgesellschaftlich nicht mehr ausgegrenzt werden. Die Idee des längeren gemeinsamen Lernens ist die, dass einerseits schwächere Schüler von stärkeren profitieren. Umgekehrt durchdringen Schüler, die anderen eine Materie erklären sollen, sie noch viel mehr. Der Lehrer soll da ein Stück weit nur noch Begleiter sein.

Geht aus den Zeugnissen hervor, ob jemand Förderbedarf hatte?

Kahlert Nein. Wenn ein Schüler den Haupt- oder Realschulabschluss erreicht hat, was bei den meisten ES-Kindern der Fall ist, wird es nicht im Zeugnis vermerkt. Das wäre diskriminierend. Anders verhält es sich, wenn ein Kind einen Regelschulabschluss nicht erreichen kann. Dann bekommt es kein Zeugnis mit Noten, sondern eine schriftliche Beurteilung seiner Entwicklung.

Wo kommen die Förderkinder später unter?

Kahlert Bei ES-Kindern ist das Ziel, ihre Defizite im Laufe der Schulzeit abzubauen, so dass ihrem Erfolg im Berufsleben nichts mehr im Weg steht. Eine Garantie dafür gibt es natürlich nicht. Dabei kommt es auch auf die Mitwirkung der Eltern an. Und für die Kinder ohne Regelschulabschluss gilt, dass sich ihnen letztlich auch die Unternehmen und Behörden öffnen müssen.

(RP)
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