Duisburg Der Kampf um die Herschi-Cola

Duisburg · Weißt du noch? Unsere Autoren, alle vom Niederrhein, erinnern sich an ihre Jugendjahre auf dem platten Land zwischen Duisburg und Emmerich, zwischen Kleve und Wesel.

Als Jugendlicher in Bislich
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Als Jugendlicher in Bislich

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Wenn man in einem niederrheinischen Dorf wie Bislich nur einen Steinwurf entfernt vom Sportplatz aufwächst und dazu noch einen fußballverrückten Vater hat, dann ist die eigene Kindheit und Jugend eigentlich vorbestimmt. Und so habe ich mich dann auch gar nicht großartig gegen dieses Schicksal gewehrt, sondern es dankend und gerne angenommen. Mein Gott, was habe ich speziell in den Ferien morgens ab 8.30 Uhr hinter dem Küchenfenster gestanden und den kleinen Bolzplatz, der an den Sportplatz grenzte, nicht aus den Augen gelassen.

Warum ich das tat? Ich wollte auf gar keinen Fall den Moment verpassen, wenn der erste Kumpel auftaucht. Hin und wieder ging mir dieser Augenblick dennoch durch. Aber dann drang es immer noch an mein Ohr, jenes unverkennbare Geräusch, wenn der Ball gegen den Maschendrahtzaun klatschte. Und schwupps, war ich zur Stelle und verließ diesen Ort, lediglich unterbrochen vom Mittagessen, meistens bis zum Abend nicht mehr.

Es waren tolle Zeiten, als wir teilweise mit mehr als 20 Kindern nach unseren eigenen Regeln auf diesem engen Bolzplatz kickten. Ein Platz, wie er schlechter kaum hätte sein können: in der Mitte ein sandiger Untergrund mit diversen Steinbuckeln, links und rechts unebener Rasen und an einer Seite des Platzes noch wuchtige Bäume, um die man herumdribbeln musste. Wer's drauf hatte, nutzte die starren Gegenspieler als Partner für den Doppelpass. Weniger talentierte Kicker oder Bolzplatz-Unkundige blieben regelmäßig an den Bäumen hängen.

Wir spielten bis 10 (Tore) oder auf Zeit (30 Minuten), drei Ecken ergaben einen Elfer und hin und wieder lobten wir sogar einen Preis für den Sieger aus. Da ging's dann um so bedeutende Dinge wie eine Flasche Herschi-Cola. Keine Ahnung, ob es diese Sorte von Cola überhaupt noch gibt. Damals war sie für 99 Pfennig in der Liter-Flasche jedenfalls gerade noch erschwinglich für das Portemonnaie von zehn Verlierern. Aber Herschi-Cola hin oder her - es ging hauptsächlich um die Ehre. Bolzplatz-Duelle waren nicht irgendwelche Spiele, die man leichtfertig abschenkte. Oh, nein! Denn bei allem Spaß, den wir hatten, ging keiner von uns gerne als Verlierer vom Platz.

Natürlich spielte der Großteil von uns auch im Verein Fußball. Natürlich beim SV Bislich, dem einzigen Verein im Ort, in dem man Mitte der 1970er Jahre Sport treiben konnte. Fußball war einfach konkurrenzlos. Es gab nichts anderes und wir wollten auch nichts anderes. Hatte die Mannschaft, der ich eigentlich angehörte, ein spielfreies Wochenende, trieb ich mich dennoch in der Nähe des Sportplatzes herum. Sicherheitshalber schon mal in kompletter Spielkleidung inklusive Fußballschuhe. Hätte ja sein können, dass ich als E-Jugendlicher mangels Personal in der D-Jugend gebraucht werde. Das eine oder andere Mal klappte dieser Schachzug auch und wenn kein Trikot für mich mehr übrig war, tat's auch das weiße Unterhemd.

Die Kinder der städtischen Vereine nannten uns Bauern und es freute uns diebisch, wenn wir "Bauern" die "Städter" hin und wieder vom Platz fegten. Beinahe folgerichtig spielten wir stets in der "Bauernliga". Ein nicht gerade respektvoll klingender Ausdruck, gegen den sich heute wahrscheinlich ganze Heerscharen von Eltern, vielleicht sogar Menschenrechtler, wehren würden. Uns war das nicht so wichtig, auch wenn wir zu gerne mal aus dieser Bauernliga herausgekommen wären.

Und wenn's denn mal nicht der Fußball war, der uns umtrieb? Was, wenn wir mal wirklich keine Lust hatten, dem runden Leder (daraus bestanden Fußbälle damals wirklich) hinterherzujagen? Dann gab es für uns in Bislich zig weitere Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Denn, wenn dieses Dorf eins zu bieten hatte, dann war dies Fläche. Scheinbar unendliche Fläche. Wiesen, Felder, Wasser, Spielplätze, kaum befahrene Straßen - ein einziges Paradies für Kinder.

Wir spielten verstecken, machten Schnitzeljagden, schlugen uns, auf den Pflaumenbäumen des Bauern sitzend, den Bauch voll, kletterten in halsbrecherischer Art und Weise herunter, wenn sich dieser mit seinem Trecker näherte, sausten im Winter den Deich mit dem Schlitten herunter oder spielten auf der zugefrorenen Kirchenwoy Eishockey. Und wer hierfür keinen passenden Schläger besaß, der brach sich vom Baum einen Ast ab und war trotzdem mit dabei. Dass sich irgendwann, ich würde mal sagen, so ab dem 14. oder 15. Lebensjahr, dieses Paradies nicht mehr ganz so paradiesisch anfühlte, lag in der Natur der Sache. Da wurden Bolzplätze zunehmend uncooler, die unendlichen Flächen ödeten einen an und für Schnitzeljagden oder Schlittenfahren fühlte man sich schlichtweg zu alt. Man wollte raus, man fühlte, dass der Zeitpunkt da war, jetzt den Rest der Welt zu erobern.

Das Fahrrad wurde zum unverzichtbaren Begleiter, vor allem, wenn die erste, feste Freundin in Blumenkamp, einem Vorort von Wesel, wohnte. Ich glaube, ich könnte noch heute diese etwa zehn Kilometer lange Strecke mit verbundenen Augen fahren: entlang der Mühlenfeldstraße, dann durch den Diersfordter Wald, quer durch Flüren, anschließend durch die Flürener Heide und schließlich über die Bocholter Straße, wo man fast auf dem höchsten Punkt der Eisenbahnbrücke rechts runter in den Ort abbiegen konnte. Hin trieben einen die Schmetterlinge, zurück war es meistens weniger lustig, vor allem im Winter, wenn's nicht nur kalt, sondern auch früh dunkel war. Da wirkte der Diersfordter Wald doch manchmal recht bedrohlich und der Tritt in die Pedale wurde unbewusst immer schneller.

Und heute? Heute wohne ich immer noch in Bislich, bin nach zehnjähriger Abtrünnigkeit in Wesel vor 14 Jahren in mein Dorf zurückgekehrt. Gehe schmunzelnd und mit ein wenig Wehmut an meinem, von Kindern kaum noch besuchten Bolzplatz vorbei, genieße die weiterhin vorhandenen Flächen. Und als ich im vergangenen Winter mit Frau und Kind den Deich aufsuchte und mit unserem Sohn den verschneiten Hang per Schlitten hinuntergefahren bin, kam eine Frau vorbei und sagte: "Das ist ja wirklich ein Traum hier." Ich habe nicht widersprochen.

Michael Elsing ist langjähriger Mitarbeiter der Rheinischen Post in Wesel.

(RP)
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