Duisburg Bumm Bumm Disco

Duisburg · Weißt Du noch? Unsere Autoren, alle vom Niederrhein, erinnern sich an ihre Jugendjahre auf dem platten Land zwischen Duisburg und Emmerich, zwischen Kleve und Wesel.

Duisburg: Bumm Bumm Disco
Foto: Sebastian Peters

Der Ort, an dem wir groß geworden sind, hatte keinen Supermarkt. Er hatte nicht einmal einen Kiosk. In diesem kleinen Kaff namens Haffen bei Rees gab es nur einen in die Jahre gekommenen Tante-Emma-Laden und eine Kneipe namens "Zum Adler", in der uns Wirt Ernst Goldkuhle, der Vater eines Klassenkameraden, samstags "Bumm Bumm" verkaufte - eine Eissorte in Form eines Tennisschlägers. Wenn man das Eis aufgeschleckt hatte, dann blieb als Griff ein längliches Kaugummi. Einige Jahre dachten wir, dass es nichts Spektakuläreres geben könnte als Eis in Form eines Tennisschlägers. Menschen meines Alters, die in der Großstadt groß geworden sind, mögen dies für unspektakulär halten. Aber wenn Du auf dem Dorf mit 1000 Einwohnern am Niederrhein groß wirst, in dem nur alle Viertelstunde die Kirchenglocke und samstags die Rasenmäher die Ruhe stören, dann liegt die Messlatte für die Kategorie Spektakel sehr tief.

 Sebastian Peters im Alter von 20 Jahren und anno 2017.

Sebastian Peters im Alter von 20 Jahren und anno 2017.

Foto: sep/end

Du bekommst den Jungen aus dem Dorf, aber Du bekommst das Dorf nicht aus dem Jungen. Wer in einem Kuhkaff groß wurde, der nimmt von dort etwas mit - fürs Leben. Man lernt, dass man den letzten Bus niemals verpassen sollte (Linie 86 nach Wesel, der "Highway To Hell" unserer Jugend); er lernt, dass man sich mit Hofhunden besser gut stellt (gefürchtet der hinter uns Radfahrern nach der Schule herrennende Kläffer auf dem Radweg nach Rees); und er lernt, dass man sich Freunde nicht aussuchen kann, wie in der Stadt, sondern dass sie auf dem Dorf manchmal alternativlos sind. Freunde, das hieß in diesem Fall: Die Jungs meiner Fußballmannschaft vom TuS Haffen-Mehr, die nur aus zwölf Spielern bestand, weshalb eigentlich nie jemand krank sein durfte. Dort haben wir gelernt, dass keine Verletzung so stark ist, Dein Auflaufen beim Fußballspiel zu verhindern. Es mussten schon große Ausreden wie Gipsarme her, um dem Fußballspiel zu entgehen. Wir spielten auf einem Fußballplatz namens "Paradiesstadion". Der Name klingt vielversprechend. Wer einmal dort war, der lernt: Das Paradies hat offenbar auch ganz normale Ecken. Die wirkliche Jugend beginnt dann, wenn Du erstmals ohne Heimweh auswärts schläfst. Ich bin, was das betrifft, ein echter Spätzünder. Aber als wir dann erstmals mit allen Freunden zelten gingen, auf einer Kuhwiese am Reeser Meer bei Haldern, da begann der süße Vogel Jugend heftigst zu flattern. Wir waren 14, einige kamen mit der selbstfrisierten Mofa (ob man der, das oder die Mofa sagt, war eines der größten Rätsel meiner Jugend. Jetzt weiß ich: Es heißt: Das Motorfahrrad). An diesem Abend jedenfalls wagten wir es erstmals, uns diesem sagenumwobenen Musikfestival namens Halderner Open Air zu nähern, wo sich die Älteren unserer Schule zwei Tage lang vergnügten.

 Der kleine Ort Haffen bei Rees mit Kirche und Kornfeld: Hier verbrachte unser Autor seine Jugend. Immer wieder am Wochenende holte er das Rad aus der Garage und fuhr zu Orten, an denen man tanzen musste, manchmal notgedrungen auch zu schlechter Musik.

Der kleine Ort Haffen bei Rees mit Kirche und Kornfeld: Hier verbrachte unser Autor seine Jugend. Immer wieder am Wochenende holte er das Rad aus der Garage und fuhr zu Orten, an denen man tanzen musste, manchmal notgedrungen auch zu schlechter Musik.

Foto: Sebastian Peters

Wir hörten uns die Musik von draußen an, weil unsere Kohle für einen Festivalbesuch noch nicht reichte; im Grunde aber auch, weil wir sie lieber in Chips investierten. Wir hörten Musikern wie Bob Geldof und den Jeremy Days zu, wir tranken dazu ein Dosenbier, und mancher von uns fand, dass das gut klang. Wir waren von da an musikalisch und von der Gesinnung her sozialisiert. Wir wurden echte Niederrheiner, und nun stand fest: Unsere Wochenenden würden wir fortan gemeinsam verbringen, wir würden mit Fahrrädern zu Orten fahren, an denen man mal ein paar Bier trinken kann und Musik läuft. Wir würden vielleicht Mädels kennenlernen, aber nach Hause - eiserner Schwur - fährt man zusammen. Und am nächsten Tag würden wir alle auf dem Fußballplatz stehen.

Wer den Niederrhein kennt, der weiß, dass Musik am Wochenende vor allem an einem Ort gespielt wird: dem Schützenfestzelt. Im Alter von 16 bis 18 haben wir jedes Wochenende mit dem Rad das platte Land erkundet, sind bis Wesel-Diersfordt oder Emmerich-Praest mit dem Fahrrad gefahren, nicht selten eine Stunde pro Strecke, um dort in den geeigneten Momenten zu tanzen. Mangels Alternativen geschah das oft genug auch zu Techno, Blümchen oder Modo mit "1, 2, Polizei". Aber Stimmung kam eigentlich immer dann erst richtig auf, wenn der DJ jene zehn Minuten puren Glücks auflegte, die jeder Rockmusikfan vom Niederrhein kennt. Das sind die Minuten, in denen der DJ die zwei bis drei Lieder des Abends spielt, in denen eine echte Gitarre vorkommt. Meist war das ein Song von Fury In The Slaughterhouse ("Won't forget these days"), danach irgendwas von den Simple Minds, Marius-Müller Westernhagen ("Sexy") und zum Übergang in die Schlagerphase schließlich die niederländische Gruppe Bots mit "Was wollen wir trinken?" Manchmal tanzten wir so wild, dass wir uns Bänderrisse holten.

Unvergessen ist in dieser Hinsicht jener Abend, an dem wir nach Emmerich zu einer Schützenfestparty fuhren. Ein Teil von uns fuhr oben auf der Hauptstraße, ein anderer Teil unten auf dem Radweg. Dazwischen ein Graben. Stephan rief vom Radweg hoch zu Gregor: "Ey, komm runter, hier fährt es sich entspannter." Gregor hatte schon ein bis drei Bier getrunken und entschied, den direkten Weg zu nehmen. Er raste in den Graben hinein und schrie vor Schmerz. Stephan, der später kein Medizinstudium begann, entschied einsam, dass Gregor sich eigentlich nur den Arm ausgerenkt haben könne. Er legte sich mit dem Knie auf seinen Oberkörper und zog einmal kräftig am Arm, wie er es bei fachkundigen Medizinern schon gesehen hatte. Gregor sagte: "Ah, schon besser." Wir fuhren dann weiter zur Schützenfestdisco, wo wir bis in die Nacht feierten. Am Sonntagmorgen hatten wir ein Fußballspiel. Gregor kam nicht. Wir riefen zu Hause an. Gregor kam nicht. Kurz vor dem Anstoß sahen wir dann den Wagen seines Vaters anrollen. Darin Gregor mit dickem Gipsarm. Wir entschieden, dass er an diesem Tag nicht Fußball würde spielen müssen. So verging unsere Jugend, und wenn Du dieses Programm zwei Jahre lang mitgemacht hast, wenn Du am Abend immer wieder auf diese verdammten zehn Minuten Tanzglück hoffst, dann willst Du irgendwann raus. Dann willst Du wissen, ob die Welt wirklich eine Scheibe ist oder ob sie hinter Wesel weitergeht. Nach dem Abitur am Gymnasium Aspel kamen neue Freunde hinzu, Zivildienstfreunde, Studienfreunde.

Man lernte, dass es am Niederrhein noch andere schöne Orte gibt, dass man im Delta Musikpark Duisburg, im E-Dry in Geldern oder in der Fabrik in Coesfeld stundenlang Rockmusik hören kann. Dass man also den Samstagabend nicht zwingend zwischen Grünröcken mit Schützenhüten verbringen muss. Wir lernten Freunde kennen, deren Heimat nicht am Rhein lag, die aus dem Emsland oder sogar aus Bayern kamen. Gute Jahre wurden das, dem Niederrhein kann man auch in Großstädten treu bleiben, aber das wilde Kapitel Dorfjugend wurde damit abgeschlossen.

Du bekommst den Jungen aus dem Dorf, aber Du bekommst das Dorf nicht aus dem Jungen. Letztens an der Tankstelle mal wieder ein Eis gekauft - lag da doch tatsächlich ein "Bumm Bumm" in der Kühltruhe. Es schmeckte süß.

Sebastian Peters ist Redaktionsleiter der RP Wesel und Regionalchef der RP am Niederrhein im Kreis Wesel, Duisburg und Emmerich.

(RP)
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