Dunkelziffer höher 40.000 Analphabeten in Duisburg

Duisburg · Viele Menschen können nur bedingt lesen und schreiben. Die Volkshochschule bietet Kurse an, die das ändern können. Häufig kommen auch Ältere wegen ihrer Enkelkinder.

 Kursus für Analphabeten in der VHS bieten Barbara Freund (rechts) und Inga Thurau an.

Kursus für Analphabeten in der VHS bieten Barbara Freund (rechts) und Inga Thurau an.

Foto: Christoph Reichwein

Den Beipackzettel eines Medikaments, die Sportangebote in der Stadt oder Fahrpläne lesen: für 1,5 Millionen Menschen der erwerbstätigen Bevölkerung ist das in NRW gar nicht oder nur teilweise möglich (leo. Level-One-Studie). Sie können nicht lesen oder schreiben und sind damit massiv in ihrer Lebensqualität eingeschränkt.

"In Duisburg gehen wir laut dieser Studie von rund 35.000 bis 40.000 funktionalen Analphabeten aus", so Inga Thurau, Fachbereichsleiterin. Das heißt: Viele Menschen können nur bedingt Lesen und Schreiben. Die Zahlen sind überall hoch und die Dunkelziffern vermutlich noch höher. Die Volkshochschule (VHS) bietet deshalb Kurse mit dem Titel "Lesen und Schreiben lernen" an. Sechs solcher Kurse gibt es aktuell, in der Stadtmitte, in Rheinhausen oder in Hamborn. Das Alter der Teilnehmer ist ganz gemischt, so die Rheinhausener Kurs- und ehemalige Grundschulleiterin Barbara Freund.

Die Gründe, warum Menschen, die ihr Leben lang Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, plötzlich zu den Kursen kommen, seien verschieden. Einen Anstoß brauche es aber immer, sagt Inga Thurau. "Diejenigen, die im Alltag gut zurechtkommen und sich ihre Strategien entwickelt haben, die kommen nicht zu uns", so die Fachbereichsleiterin. Erst wenn Veränderungen im Leben auftreten, etwa wenn der Partner weg ist oder sich etwas beruflich ändert, würden die Menschen die Seminare besuchen. Gerade Ältere würden wegen ihrer Enkelkinder kommen, damit sie diesen in der Schule helfen oder vorlesen können, berichtet Barbara Freund. Andere möchten beruflich Fuß fassen oder umschulen. Auch eine Krankheit, wie etwa ein Schlaganfall, sei ein Grund, warum Menschen Sprache und Schrift neu lernen müssten.

So individuell wie die Gründe sind auch die Probleme der Teilnehmer. Einige können einzelne Worte lesen und schreiben, andere fangen bei Null an. Freund bereitet sich wöchentlich auf jeden Teilnehmer einzelnen vor.

"Ich packe immer elf Mappen, und jeder Teilnehmer bekommt einzelne Aufgaben". Dass das viel Arbeit sei, bestreitet sie nicht, doch es mache ihr sehr viel Spaß, mit den Menschen zu üben und sie zu motivieren, etwa anhand von Rätselraten, wie Galgenmännchen.

Die Teilnehmer kommen meist aus eher bildungsfernen Häusern. Sie wurden in der Schulzeit wenig unterstützt, die Lehrer seien damit häufig überfordert, berichten Thurau und Freund. Andere hätten im Beruf wenig mit Schreiben und Lesen zu tun, übten es einfach nicht mehr und würden es so verlernen. Vor allem Unternehmen seien gefragt, ihre Mitarbeiter zu unterstützen. Denn hingegen aller Vorurteile sind Analphabeten nicht immer arbeitslos. "Viele sind erwerbstätig", sagt Freund.

Mit gängigen Ausreden wie "Ich habe meine Brille vergessen" kommen sie jahrelang unbemerkt durch. Andere hingegen würden ganz offen mit der Schwäche umgehen, berichtet die Kursleiterin und erzählt von einem Mann, der einfach zur Fahrschule ging und zugab, dass er Analphabet sei und trotzdem eine Prüfung absolvieren möchte. "Er bekam einen Dolmetscher", erinnert sich Freund.

Mittlerweile sei es auch einfacher, zu diesem Problem zu stehen. Es sei kein Tabu-Thema mehr, da sind sich die Lehrerinnen einig. "Früher musste man die Teilnehmer quasi im Dunkeln heimlich zu den Kursen bringen, damit es ja keiner mitbekommt", sagt Barbara Freund.

(RP)
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