Stefan Süß "Wir brauchen eine E-Mail-Bremse"

Düsseldorf · Der BWL-Professor spricht über die Sinnhaftigkeit von Home Office, das Modewort Work-Life-Balance und den Stressfaktor von E-Mails.

 Stefan Süß im Interview in seinem Büro. Der BWL-Professor ist Lehrstuhlinhaber für Personal und Organisation an der Heinrich-Heine-Uni.

Stefan Süß im Interview in seinem Büro. Der BWL-Professor ist Lehrstuhlinhaber für Personal und Organisation an der Heinrich-Heine-Uni.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Herr Süß, wie hat sich die Arbeitswelt und der Arbeitsplatz in den vergangenen 20 Jahren verändert?

Stefan Süß Wir haben eine Digitalisierung des Arbeitsplatzes erlebt, die kaum ihresgleichen kennt. Die Erfindung der E-Mail hat den Büroalltag auf den Kopf gestellt. In Produktionsprozessen hat die Digitalisierung fast noch mehr verändert, über alle Branchen hinweg.

Bleiben wir bei der E-Mail, ist die nun als Erfindung Fluch oder Segen?

Süss E-Mails haben in enormer Weise die Flexibilität am Arbeitsplatz gefördert. Und das in zwei Stufen. Erst durch die Mail, die man auf dem stationären PC am Arbeitsplatz liest. Und dann mit einem deutlichen Turbo durch die Lesbarkeit der E-Mails immer und überall auf dem Smartphone. Man muss aber auch ganz klar sagen, dass E-Mails den Stresslevel für Arbeitnehmer erheblich erhöht haben, weil der zeitliche Druck, sie schnell zu beantworten, enorm angewachsen ist.

Gibt es ein Zuviel an Information?

Süss In Teilen gibt es ein Zuviel an Information. Ich erhalte 70 bis 90 Mails am Tag. Ich habe im Vor-E-Mail-Zeitalter sicher nicht 90 Briefe am Tag bekommen und schon gar nicht beantwortet. Außerdem hat sich der Nachrichtenfluss dadurch drastisch erhöht, dass es einen Trend gibt, eine Unmenge an Menschen noch in Kopie in den Mailverteiler aufzunehmen. Auch solche, die mit dem eigentlichen Vorgang nur peripher zu tun haben. Eine Art E-Deflation ist angebracht. Wir brauchen dringend eine Verhaltensänderung, um die Zahl der Mails am Tag zu reduzieren, denn E-Mails und der Zwang zur Beantwortung verursachen halt Stress. Wir brauchen eine E-Mail-Bremse, vielleicht eine Art Verhaltenskodex, Mails auf das Notwendige zu reduzieren.

Volkswagen hat das versucht, und ist gescheitert . . .

Süss Von dem Weg, den Volkswagen gegangen ist, halte ich überhaupt nichts. Dort wurden die Firmenserver so eingerichtet, dass ab Ende der regulären Arbeitszeit zwar Mails geschrieben, nicht aber neue gelesen werden konnten. Das führte dann dazu, dass Mitarbeiter morgens einen gigantischen Berg an Mails auf einmal abarbeiten mussten, statt dies sukzessive am Abend zu tun. Auch diese morgendliche Mailflut sorgte bei den VW-Mitarbeitern für zusätzlichen Stress. Daher ist der Autobauer davon in der strikten Form auch wieder abgewichen. Manche Mitarbeiter konnten stressfreier arbeiten, wenn sie die Mails zu einem von ihnen gewählten Zeitpunkt bearbeiteten.

Wie verändern sich die Arbeitszeiten?

Süss Wir beobachten eine deutliche Flexibilisierung der individuellen Arbeitszeiten und auch der Arbeitsorte. Ausgenommen sind davon natürlich Branchen, die an Öffnungszeiten oder Orte gebunden sind, wie etwa Fabriken oder der stationäre Einzelhandel. Für manche Arbeitnehmer ist das sehr angenehm, flexibel zu arbeiten, weil sie etwa ihre persönlich produktivsten Tageszeiten optimal nutzen oder familiäre Verpflichtungen besser wahrnehmen können. Allerdings zeigen Studien, dass eine Flexibilisierung am Ende im Durchschnitt zu individueller Mehrarbeit führen kann.

Was ist mit dem immer moderner werdenden Home Office, also dem eigenen Zuhause als Arbeitsplatz?

Süss Das ist ganz klar Typsache. Für manche bringt es Gewinn, das eigene Hobby oder etwa die Kinderbetreuung besser mit der Arbeit zu vereinen. Andere Menschen brauchen das eigene Zuhause als privaten Rückzugsort. Es ist eine Frage der individuellen Work-Life-Balance.

Ist das ein Modewort oder wirklich ein Trend?

Süss Wir beobachten, dass für die jüngere Generation, die sogenannte Generation Y und Z, die Arbeit heute nicht mehr so einen zentralen Stellenwert hat wie vor Jahren für frühere Generationen. Außerdem hat sich der Markt gedreht. Anders als noch vor wenigen Jahren haben wir einen Wettbewerb um Talente. Da müssen Firmen sich heute was einfallen lassen, um als Arbeitgeber attraktiv zu sein. Und das heißt Freizeitmöglichkeiten, Familienverträglichkeit, Gesundheit - eben Work-Life-Balance.

Was spricht für das Home Office?

Süss Für die Arbeitnehmer, dass sie sich die Zeit und Sprit oder das Ticket für den Weg zur Arbeit sparen. Manche arbeiten in den eigenen vier Wänden auch konzentrierter und effektiver.

Die IG Metall verhandelt gerade über die 28-Stunden-Woche. Kommt sie?

Süss Wir sehen gerade erst den Beginn der Verhandlungen, da wird hoch gepokert. Denn gleichzeitig wird auch ein kräftiges Lohnplus gefordert. Das ist auch in Ordnung, weil die Löhne lange hinter der Inflation zurückblieben. Eine 28-Stunden-Woche dagegen halte ich für Deutschland für nicht wettbewerbsfähig.

Sie haben ein großes Einzelbüro. Ist der Trend vorbei?

Süss Ich habe ein Einzelbüro, weil ich da auch Prüfungen abnehme. Der Trend geht weiter zum Großraumbüro. Dort funktioniert die Kommunikation einfach besser. Und dass die Konzentration dort leidet, ist eine Mär. Denn Forschungen haben ergeben, dass das Grundrauschen im Großraum weit weniger Menschen stört, als der einzelne telefonierende Kollege im Zweier-Büro. Das ist wie permanenter Autobahnlärm oder alle paar Minuten ein einzelner Raser auf einer Landstraße, dort lenkt jeder Wagen ab.

ISS, Vodafone oder Siemens setzen in Düsseldorf darauf, dass keiner mehr einen eigenen Schreibtisch hat. Ist das wirklich gut?

Süss Einerseits zwingt das die Mitarbeiter zur Ordnung, wenn sie jeden Abend eine blanke Platte hinterlassen, weil sie morgen irgendwo anders sitzen und ein anderer Kollege an ihrem Platz. Aber die Aufgabe des eigenen Schreibtisches ist auch ein Verlust von Heimat und Identität. Menschen sind Gewohnheitstiere, warum sonst sitzen sie in Meetings immer wieder auf dem gleichen Platz?

THORSTEN BREITKOPF FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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