Buchhandlung So geht es den Mitarbeitern vom Düsseldorfer Stern-Verlag heute

Düsseldorf · Kurz vor Weihnachten 2015 wurde bekannt, dass der Stern-Verlag schließt. Was wurde aus den Menschen, die in der einst größten Buchhandlung in Deutschland gearbeitet haben? Eine Betriebsrätin und die Stimme des Hauses erzählen.

 So sieht der Stern-Verlag an der Friedrichstraße heute aus. Die Fenster sind teilweise zugeklebt, im Eingang brennt noch Licht.

So sieht der Stern-Verlag an der Friedrichstraße heute aus. Die Fenster sind teilweise zugeklebt, im Eingang brennt noch Licht.

Foto: Andreas Endermann

Wäre die Destille eine Kneipe in einem Roman, wäre sie zu gut erfunden. "Köstlichkeiten ohne Schnickschnack" steht neben der Tür an der Bilker Straße, an den Wänden hängen Blätter mit Gedanken und Gedichten, Poster werben für die Veranstaltungen des Hauses: Samstags kommen die Literaten und Autoren, sonntags Philosophen und Jazzer, donnerstags ist Veggie-Tag. In der Destille treffen sich auch die Menschen, die nicht mehr mit Büchern handeln. Sie erzählen von jenen, die es noch tun, wie gerne sie es selbst wieder tun würden und der Heimat, die sie verloren haben.

Die ein, zwei Dutzend Menschen, die an den drei Tischen in der Destille zusammengerückt sind, haben im Stern-Verlag gearbeitet, dem Buchhaus an der Friedrichstraße, das am 31. März für immer schloss. Eine erzählt von der ersten Weihnachtsfeier in der neuen Firma, eine andere von einer Marotte, die sie vor einem fremden Regal an sich selbst entdeckte, und einer von etwas Unerwartetem, das er am Telefon gehört hat.

 Simone Raasch war früher in der Sortimentsleitung tätig, heute ist sie bei der Rheinisch-Bergischen Druckerei.

Simone Raasch war früher in der Sortimentsleitung tätig, heute ist sie bei der Rheinisch-Bergischen Druckerei.

Foto: Endermann Andreas

Für Simone Raasch war der 31. März der Tag, an dem noch mehr Tränen flossen. Zum letzten Mal hatte sie die Kollegen eingeteilt und versucht, ihre Wünsche zu berücksichtigen. Diejenigen, die nicht mehr arbeiten wollten, nahm sie aus dem Plan, diejenigen, die lieber morgens da sein wollten, setzte sie in die Frühschicht. Sich selbst musste sie an diesem Tag freigeben. Kurz vor Ostern hatte sie eine Stellenanzeige in der Zeitung entdeckt und über das Wochenende ihre Bewerbung geschrieben. Das Vorstellungsgespräch lief gut, am Morgen des letzten Tages im "Stern" konnte sie deshalb schon ihren neuen Arbeitsvertrag bei der Rheinisch-Bergischen Druckerei unterschreiben. Das bedeutete aber auch, dass sie am Mittag ihre Kündigung abgeben, ihren Schreibtisch ausräumen und den Kollegen sagen musste, dass sie nicht wie viele andere die Übergangszeit bis zum 30. Juni mitmachen würde.

Ganz neu anfangen

 In der Destille treffen sich die ehemaligen Kollegen einmal im Monat zum Stammtisch.

In der Destille treffen sich die ehemaligen Kollegen einmal im Monat zum Stammtisch.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

24 Jahre hat Simone Raasch im Stern-Verlag gearbeitet. Sie lernte Buchhändlerin, war kurz in der Zweigstelle auf dem Uni-Campus, unterrichtete viele Jahre die Auszubildenden und war zuletzt für die Einsatzplanung der mehr als 100 Mitarbeiter zuständig. Simone Raasch war auch die Stimme des Sterns. Während sie sich als junge Mutter zuhause um ihre kleinen Kinder kümmerte, wünschte sich Stern-Verlags-Inhaber Klaus Janssen, dass sie alle Ansagen einspricht: für den Anrufbeantworter, die Durchsage zum Ladenschluss und für den Fall, dass das Geschäft wegen einer Notlage geräumt werden muss. Und so fuhr Simone Raasch mit ihrem Sohn ins Geschäft und nahm die Texte auf.

Der erste Tag nach dem letzten Tag war ein Freitag, Simone Raasch hatte ihren neuen Arbeitgeber gebeten, den neuen Vertrag erst am Montag beginnen zu lassen. Am Freitag mischt sich die Trauer mit Angst. Im Stern-Verlag traf die 43-Jährige spätestens ab 17 Uhr alle Entscheidungen für den Laden, nun musste sie neu anfangen. Sie arbeitet mit demselben Zeiterfassungssystem wie früher, sie fand wieder nette Kollegen und sagt: "Ich fühle mich wohl."

 Barbara Hajek arbeitete in verschiedenen Fachbuch-Abteilungen, jetzt unterstützt sie im Matthias-Claudius-Haus unter anderem Boris Weber.

Barbara Hajek arbeitete in verschiedenen Fachbuch-Abteilungen, jetzt unterstützt sie im Matthias-Claudius-Haus unter anderem Boris Weber.

Foto: Endermann Andreas

Wenn es darum geht, Bücher zu kaufen, hat Simone Raasch wie die meisten ehemaligen Mitarbeiter des Stern-Verlags ein Problem. In Filialen von Ketten geht sie nicht, ein inhabergeführtes Geschäft nach ihrem Geschmack fand sie in Korschenbroich. Dort hat sich ein früherer Kollege selbstständig gemacht, dort fährt sie nun hin, wenn sie eine Lesung hören möchte.

Komisches Gefühl namens "Das gibt es nicht mehr"

Der große Umbruch hatte auch eine gute Seite. Simone Raasch hatte ihren Lebensgefährten im Stern-Verlag kennengelernt. Jahrelang waren die beiden Kollegen, die keinen direkten Kontakt hatten, dann trafen sie sich auf einer Party und wurden ein Paar. Ein Paar, das immer sagte "Diesen Sommer müssten wir eigentlich mal heiraten" und zu Beginn des folgenden Jahres genau denselben Satz wiederholte. Nun aber machten sie das Datum für den Sommer fest. Eine Freundin gestaltete ihnen für den Tag eine dreistöckige Torte, verziert war sie mit vielen kleinen Büchern aus Marzipan - und unten an der Seite mit einem Stern auf grünem Grund.

Den Stammtisch in der Destille hatte es auch vorher gegeben, belebt und beatmet vom Betriebsrat, von vielen mal halbherzig, mal weniger wahrgenommen. Man sah die Menschen doch jeden Tag, man war doch immer mindestens unter einem Dach. Als das aufhörte, veränderte sich der Stammtisch. Plötzlich kamen die, die nie da waren, die anderen sagten nun andere Termine ab. Sie wollen hören, ob das mit dem neuen Job geklappt hat, darüber reden, dass schon wieder eine Buchhandlung übernommen wurde, und erzählen, was herauskam, als sie jüngst "Stern-Verlag" gegooglet haben. Viel mehr der ehemaligen Kollegen duzen sich nun, sie genießen es, die vertrauten Gesten zu sehen und Stimmen zu hören, spüren auf dem Heimweg aber auch dieses komische Gefühl namens "Das gibt es nicht mehr".

Für Barbara Hajek war der 31. März der Tag, an dem ein Schmerz aufhörte. In den Wochen davor hatte sie die Bücher ja immer noch vor Augen. Sie war Aufseherin eines gigantischen Ausverkaufs, aber nicht mehr Beraterin der Kunden. Jeden Tag verschwanden Fachrichtungen, immer mehr Abteilungen blieben im Dunklen, Schritt für Schritt schrumpfte alles auf den rechten Teil des Geschäfts zusammen. Das endete am letzten Tag mit der Feier der Mitarbeiter und vieler früherer Kollegen, dem traurigsten Klassentreffen der Stadt. Gegen Elf ging Barbara Hajek aus dem Tiefgeschoss nach oben und lief durch den Vorderausgang. Mit einer Freundin setzte sie sich vor der Tür auf eine Bank, erst weit nach Mitternacht gingen die beiden nach Hause.

Vom Schmerz, Kunde zu sein

In den Wochen danach spürte die 50-Jährige einen neuen, einen Phantomschmerz. Die Mitarbeiter, die noch da waren, hatten einen Vertrag bis zum 30. Juni, sie sollten helfen, den Stern-Verlag abzubauen. Und so kam Barbara Hajek wieder und wieder an Regalen vorbei, bei denen sie genau wusste, was dort gestanden hat. Hier war Reise, da ungefähr müsste Marokko gewesen sein. Die Tage waren nicht gut vorbereitet. Mitarbeiter kamen immer mal wieder morgens zur Friedrichstraße und wurden dann wieder heimgeschickt. Erst nur für einzelne Tage, dann auch mal eine Woche. Als Betriebsrätin versuchte sie dafür zu sorgen, dass mehr Kollegen freigestellt werden.

In ihrer Wohnung in Oberbilk hat Barbara Hajek eine Ausstellung geschaffen. Im Flur, auf Stühlen und Tischchen liegen besonders schöne Bücher und solche, die neu bei ihr sind. Sie bewahrt sie vor dem Untergang in einem der Regale und schmückt die Umgebung. An der Wand hängt ein Plakat von der Frankfurter Buchmesse 1949.

Wenn sie in Buchläden geht, erwischt sich Barbara Hajek bei der Pflege von Marotten. Sie rückt die Bücher in den Regalen zurecht, immer auf Kante. Nur mit Mühe bringt sie sich davon ab, in Kundengespräche einzusteigen oder die Büchertische anzugehen, sie so zu gestalten, wie sie das über mehr als 25 Jahre in den Abteilungen Kunst, Theologie, in Philosophie oder zuletzt Gesundheit gemacht hat. Sie kennt jetzt einen neuen Schmerz, den Schmerz, Kunde zu sein, den Schmerz, auf der anderen Seite der Theke zu stehen.

Am 1. Juli wurde Barbara Hajek zum ersten Mal in ihrem Leben arbeitslos. Sie wollte in den sozialen Bereich, aber eben so, dass sie als Mutter mit zwei Kindern davon leben kann, auch wenn sie Quereinsteigerin ist. Ein ehemaliger Kollege und Freund vermittelte ein Gespräch mit einem Mitarbeiter des Matthias-Claudius-Hauses in Flingern. Barbara Hajek wollte ihn eigentlich nur nach Tipps fragen. Inklusions- oder Demenz-Begleitung als Ungelernte - gibt es da Möglichkeiten? "Ja, hier", sagte der Mann. Einen Tag später war die Bewerbung geschrieben, zwei Tage später das Vorstellungsgespräch absolviert, am 15. August begann sie wieder zu arbeiten.

Barbara Hajek hilft den acht Menschen in einer der drei Wohngruppen, Menschen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen Unterstützung im Alltag brauchen. Wecken und ins Bett bringen, kochen, spielen, einkaufen, Ausflüge, wo und was für jeden eben nötig ist und gut tut. Barbara Hajek hat auch schon Bücher mitgebracht, die ein Bewohner für andere vorgelesen hat. Auch wenn sie nicht sicher ist, wer was versteht, merkt sie, dass Literatur auch jenseits ihres Inhalts berührt.

Beim letzten Stammtisch des Jahres gibt es Neues vom Alten. Einige diskutieren, ob sie sich noch einmal im Laden an der Friedrichstraße treffen sollen, einen neuen Mieter gebe es ja wohl noch nicht. Einer berichtet, dass in der Büroetage des Stern-Verlags immer mal wieder Licht brennt. Ein anderer erzählt, wie er letztens noch mal die allen vertraute Telefonnummer des Hauses angerufen hat. Er hörte die Stimme von Simone Raasch: "Guten Tag, hier ist der Anschluss des Buchhauses Stern-Verlag in Düsseldorf. Leider rufen Sie außerhalb unserer Geschäftszeiten an."

(hdf)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort