Stern-Verlag in Düsseldorf Zehneinhalb Stunden Abschied

Düsseldorf · Die Düsseldorfer Traditionsbuchhandlung Stern-Verlag hat nach mehr als 115 Jahren geschlossen. Der Abschied dauerte zehneinhalb Stunden, es flossen Tränen. Mitarbeiter und ehemalige Kollegen kamen am letzten Tag zum traurigen Klassentreffen zusammen.

Der letzte Tag des Stern-Verlags
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Foto: Endermann, Andreas

Auf jedem Begräbnis gibt es einen echten Lacher. Der des letzten Tages im Stern-Verlag ging so: "Wir hätten da noch ein paar Mal St. Martin im Angebot", sagt eine Verkäuferin. "Ja, und ein bisschen Latein muss auch noch weg", sagt ihre Kollegin.

Beide blicken auf Dutzende Exemplare von "St. Martin. Sein Leben und Fortwirken in Gesinnung, Brauchtum und Kunst" und von "Mutter Latein und ihre Töchter". Das Regal, in dem sie stehen, ist das einzige des Hauses, das noch von oben bis unten mit Büchern gefüllt ist.

In weiten Teilen des Geschäfts sind die Möbel leer. Die Untergeschosse liegen im Dunkeln, im hinteren Bereich gibt es nur noch ein Schild, das darauf hinweist, dass der Ausgang zur Talstraße geschlossen ist. Im Obergeschoss bietet der Stern-Verlag seine hellgrauen Tische, Regale, Boxen in diversen Höhen und Breiten an. Im kleinen Rest des Ladens sind die Werke zusammengeschoben, die in den drei Runden Ausverkauf der vergangenen vier Wochen noch keiner haben wollte.

So betrachten die Kunden des letzten Tages eine seltsame Mischung unbekannter und ungeahnter Bücher. Schullektüren stehen neben Steuerrecht-Erläuterungen, englischsprachige Romane neben japanischen Comics, die Biografien von Til Schweiger und Ralph Siegel neben "Jetzt rede ich" von Rainer Brüderle.

Düsseldorf: Ein Rückblick auf 116 Jahre Stern-Verlag
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Ein Rückblick auf 116 Jahre Stern-Verlag

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Foto: Stern-Verlag

Zwei Ausgaben von "Trauerfloristik" sind noch da

Die Besucher gehen langsam an diesen Wänden vorbei, nehmen Bücher heraus, halten sie in der Hand, wenden sie - und staunen über manchen Titel, der viel zu sehr zu diesem Tag passt. Von "Trauerfloristik" sind noch zwei Ausgaben da, in der Mitte eines weitgehend leeren Regals steht ein Werk, das "Bis heute" heißt.

Reaktionen auf Schließung des Stern-Verlags
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Foto: Andreas Endermann

Neben den zufälligen Zeichen des Abschieds gibt es auch gewollte. Vor der Tür liegt ein zwei Meter breites, rotes Banner, das mit weißen Rosen geschmückt ist. "Danke an alle - Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Freunde... und viel Glück und Segen für den neuen Lebensabschnitt", steht darauf.

Im Schaufenster hängt ein großes Plakat. Der Dank für jahrzehntelange Treue, der dort ausgedrückt wird, klingt noch üblich für eine Geschäftsaufgabe. Darauf folgt der Nachsatz "und für die überwältigende Anteilnahme".

Aus einem Gerücht wurde eine wahre Nachricht

Der Inhaber des Stern-Verlags, Klaus Janssen, hatte kurz vor Weihnachten erklärt, dass das Buchhaus am 31. März nach mehr als 115 Jahren für immer schließt. Mit mehr als 5000 Quadratmetern Verkaufsfläche sei es "heute nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben". So wurde aus einem lange gehegten Gerücht eine wahre Nachricht und es zeigte sich, welche herausragende Rolle das Geschäft für die Landeshauptstadt spielt.

Die Kunden schrieben Briefe, E-Mails, Kommentare im Internet. In den vielen, vielen Gesprächen an den Kassen oder am Regal rollten immer wieder Tränen. Die Facebook-Gruppe "Düsseldorf braucht den Stern-Verlag" erhielt in fünf Tagen mehr als 3000 "Gefällt-mir-Angaben".

Auch am 31. März suchen die Kunden das Gespräch, finden es aber nicht immer. "Letzter Tag heute, hm?", sagt ein Mann zu der Dame an der Kasse. Sie schweigt. "Und? Gibt es heute noch eine Trauerfeier?", fragt er. Wieder folgt Stille, dann sagt sie: "Ich denke schon."

Viele, nicht alle Mitarbeiter tragen dunkle Kleidung: schwarze Hosen und Jacketts, tiefgraue Blusen, schwarze-graue Hemden, anthrazit-farbene Westen. Eine Buchhändlerin hat eine kräftig grüne Strickjacke an. Diejenigen, die nicht an der Kasse arbeiten, treffen sich immer wieder zu zweit, zu dritt, zu fünft an einem Infotisch oder in einer Ecke. Sie reden viel, sie lachen immer mal wieder, sie schauen gemeinsam durch den Laden. Ein Mann unterbricht sie und fragt, ob der Stern-Verlag wirklich schließt. "Das ist leider kein Aprilscherz", sagt eine von ihnen.

116 Mitarbeiter beschäftigte der Stern-Verlag im Dezember, als das Aus bekanntgegeben wurde. 20 verließen das Unternehmen in den drei Monaten danach, wechselten in andere Buchhandlungen oder andere Branchen.

96 waren am Donnerstag noch Angestellte, sie werden nach einem Sozialplan entschädigt, den Inhaber Janssen als "umfangreich" bezeichnet und der Betriebsrat als "sehr ordentlich". Ein Großteil der Belegschaft bleibt bis Ende Juni angestellt. Was sie nach ein paar Tagen Aufräumen noch machen sollen, weiß niemand.

In der Mittagszeit bilden sich zum ersten Mal kleine Schlangen an den Kassen. Sechs, sieben Kunden warten dort, sie halten Poster, Romane, Postkarten oder Malbücher im Arm und holen sich noch eine letzte dunkelgrüne Plastiktüte mit weißem Stern darauf. Einer von ihnen trägt eine Ausgabe von "St. Martin". Til Schweiger und Ralph Siegel sind inzwischen weg. Rainer Brüderle ist noch zu haben.

Das Antiquariat ist den ganzen Tag über besucht und wird von Kunde zu Kunde empfohlen. "Da gibt es wenigstens noch was", sagt eine Frau, als sie am Fuße der Treppe ihre Nachbarin trifft. Am oberen Ende gehen und sprechen die Kunden so, dass sie möglichst nicht auffallen. Die Bretter scheinen noch gut belastet von Büchern, auf den zweiten Blick fallen aber auch hier die Lücken und die komplett leeren Regale auf.

Eine Mitarbeiterin umfasst mit beiden Händen einen Stapel gelber Bücher und schiebt sie so alle wieder ganz gerade über einander. Ihr Kollege steht auf einem Hocker, auf seinen Händen liegt ein mächtiger Band. Er nimmt eine Seite zwischen die Finger, hebt sie in die Senkrechte und streicht sie dann mit der Hand auf der linken Seite nieder.

Während unten Agatha Christie zu den letzten weithin bekannten Namen auf den Buchrücken zählte, lesen die Kunden hier oben noch viele vertraute Namen: ein bisschen Schiller und ein wenig Shakespeare, viel Frakturschrift, der einsame Band 16 einer Brockhaus-Enzyklopädie, zwei Bücher über den Opel Vectra, die Biografie von Ulf Kirsten ("Der Torgarant") und die Geschichte der Stadt Castrop-Rauxel. Der Mann, der eben noch auf dem Hocker stand, rollt zwei auf einander gestapelte rote Kisten durch den Raum und füllt die oberste mit Büchern aus einem Regal.

Die Jetzt-noch-immer-Bestände des Antiquariats sollen in einer Auktion im April neue Eigentümer finden. Ähnliches ist für die Möbel angedacht. Die Bücher, die auch an diesem letzten Tag im Erdgeschoss liegen geblieben sind, sollen nun palettenweise an einem Ramschhändler gehen.

Im ehemaligen Café des Hauses sind schon am Morgen Bierbänke und Tische mit Papierdecken zu sehen. Die Mitarbeiter haben viele Kollegen, die vor zehn oder zwanzig Jahren zum Stern-Verlag gehörten, aufgespürt und eingeladen. Mehr als 150 Menschen kommen am Eingang zusammen. Nun drücken doch einige ihr Gesicht gegen die Schulter eines anderen. Langsam gehen alle nach unten, dann beginnt das traurigste Klassentreffen der Stadt.

(RP)
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