Bilk Ein Ort der Geborgenheit

Bilk · Dass ein Kiosk mehr sein kann als eine schnelle Einkaufsmöglichkeit, beweist Ismet Polatli mit seinem Bilker Büdchen. Ein Besuch.

 "Manchmal bin ich auch ein Therapeut", sagt der 51 Jahre alte Ismet Polatli. 90 Prozent seiner Kunden seien Stammkunden, sagt er.

"Manchmal bin ich auch ein Therapeut", sagt der 51 Jahre alte Ismet Polatli. 90 Prozent seiner Kunden seien Stammkunden, sagt er.

Foto: Anne orthen

Kühl streift der Wind durch die Blätter der Bäume auf der Himmelgeister Straße, Ismet Polatli schließt für einen Moment die Augen, genießt die Ruhe. Der Qualm seiner Zigarette kräuselt sich kunstvoll. Die meisten Zigaretten verglimmen, ohne dass er ihren Rauch inhaliert. "Manchmal bin ich auch ein Therapeut", sagt der 51-Jährige und schaut in den Himmel. Energisch betritt plötzlich ein Mann seines Alters den Kiosk, Polatli eilt ihm nach in das Büdcheninnere, greift in das Zigarettenregal und fischt nach zwei Packungen. "Ich mache das nicht mehr lange mit", schnaubt der Mann, zahlt passend, verlässt ebenso eilig den Kiosk gegenüber der Kieferklinik wie er gekommen ist. "Ach Frank", sagt Polatli und berührt leicht seinen Arm, "du weißt doch, wie das ist. Du musst einfach Geduld haben". Er schaut dem Mann hinterher. Polatli kennt seine Kunden. Häufig auch deren Namen, mitunter ihre Berufe. Manchmal auch ein wenig mehr. 90 Prozent seiner Kunden seien Stammkunden, sagt Polatli. "Hierher verirrt sich niemand."

Gemeinsam mit seinem Partner betreibt der 1965 in Tercan, einer Kleinstadt im Osten der Türkei, geborene Kurde seit gut fünfeinhalb Jahren den Kiosk in Bilk, verkauft dort Zeitschriften, Zigaretten und Fahrkarten, kleine Snacks, Kaffee und Eis. Und Polatli kennt das Kaufverhalten seiner Kunden. Dass er fließend drei Sprachen spricht, hilft ihm oft im Umgang mit seinen Kunden. "Ich bringe so ein anderes Flair in den Kiosk", sagt er, "eine andere Aura". Langsam trottet ein Rentnerpaar die Straße hinunter, ihre hängenden Mundwinkel verraten ihre Laune. Die bessert sich erst, als sie im Büdchen ein aktuelles Rätselheft erstehen.

"Weißt du, was an einem frühen Sonntagabend am häufigsten gekauft wird?", fragt Polatli. Ich spekuliere, vermute Alkohol. "Süßigkeiten", sagt Polatli, "Gummibärchen, Chips und Cola." Polatli konkretisiert: "Die ganze Woche über reißen sie sich am Riemen, treiben Sport und achten streng auf ihre Linie. Aber sonntags kommt die Einsamkeit, dann kaufen sie das ungesunde Zeug." Polatli lächelt, erklärt gestenreich. Überhaupt ist er ein körperlicher Mensch. Nicht selten komme es vor, dass ihn Kunden auch in den Arm nähmen, sagt er. In ihm sehen sie einen Vertrauten, einen, der zuhören kann. Polatli weiß das und hört zu. "Ich bin kein Soziologe", sagt er, "aber ich bin ein soziales Wesen". Das ist seine Stärke. Und sein Interesse an Menschen, denn um die geht es in seinem Kiosk. "Das hier ist nichts anderes als ein Tante Emma Laden", sagt der Kioskbetreiber. "Das hier ist aber auch ein Ort der Geborgenheit. Ein Begegnungsort der Menschen. Irgendwie." Polatli beobachtet einen demografischen Wandel seines Viertels. "Einige mussten hier wegziehen, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen können", sagt er nachdenklich. "Ganz leise verlassen sie die Straße und man sieht sie nie wieder." Irgendwann parkt eine Frau ihren Kleinwagen in zweiter Reihe vor dem Geschäft, verzichtet auf das Einschalten der Warnblinkanlage. "Paketservice", sagt Polatli und geht der Frau einige Meter entgegen, nimmt ihr ein großes Paket ab. "Sie bestellen ihre Klamotten mittlerweile online", erklärt er, nachdem die Frau wieder gefahren ist. "Zehn Kleidungsstücke, neun davon schicken sie zurück."

Zwei junge Männer mit Vollbart und Dutt kaufen Blättchen und Filter, ein Rentner, der sein Damenrad mit weißem Drahtkörbchen auf dem Bürgersteig parkt, zwei Flaschen Bier.

"Zum Kiosk bin ich über Umwege gekommen", sagt Polatli und versucht, vor der Tür eine weitere Zigarette zu rauchen. Da seine Söhne studierten, benötigte er ein geregeltes Einkommen, um das Studium seiner Kinder finanzieren zu können. Sein Ältester ist 30 Jahre alt, hat das BWL-Studium lange beendet. Der zweite, 25 Jahre alt, studiert Politikwissenschaften und schreibt derzeit seine Abschlussarbeit. "Das hier ist ein Job", sagt Polatli, "meine eigentliche Arbeit beginnt, wenn ich nach Hause komme." Dort hat er sich ein Atelier eingerichtet, das er als seinen Fluchtpunkt bezeichnet. Was Ismet Polatli auf seinen Bildern erzählt, sind Geschichten, die zwischen Traum und Realität changieren. Zur Bildenden Kunst kam er schon kurz nach seiner Ankunft in Deutschland. Mit 14 begann er, Gedichte zu schreiben und zu musizieren, vor allem aber zu zeichnen und zu malen. Die Techniken, mit denen er arbeitet, hat er sich autodidaktisch beigebracht: das Zeichnen mit Bleistift, Kohle- und Rötelstiften, mit bunten Pastell- und Ölkreiden, schließlich das Malen mit Wasserfarben und Arbeiten in Öl. Oft sind Bäume Gegenstand seiner Gemälde, nicht selten Solitärpflanzen. "Auf meinen Bildern sind die Bäume wie Menschen", sagt er. Und dass die Malerei sein Artikulationsformat sei. Zahlreiche Ausstellungen liegen bereits hinter ihm, aktuell stellt er seine Kunst in Marburg, bald in Wuppertal aus. "Viele bringen das Klischee, das sie von einem Kiosk-Betreiber im Kopf haben, nicht mit meiner Person überein", sagt Polatli. Aber das sei für ihn schon okay.

Der Vermieter hat den Pachtvertrag des Kiosks gekündigt, will den Laden bald eigenständig weiterführen. Ende August müssen Polatli und sein Geschäftspartner raus. Dann will sich Polatli auf die Malerei konzentrieren: "Weniger interagieren, dafür noch mehr beobachten." Um den Kiosk unter gleicher Führung zu erhalten, wollten Anwohner eine Unterschriftenaktion starten. Polatli riet ab. "Keine Chance, juristisch haben wir die Rechtmäßigkeit der Kündigung schon prüfen lassen." Polatli aber hat vorgesorgt. Seit Wochen sammelt er Telefonnummern und Mailadressen einiger Kunden: "Schließlich sind hier auch echte Freundschaften entstanden."

(RP)
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