Düsseldorf Mehr als ein Jahrhundertleben

Düsseldorf · Die älteste Düsseldorferin, Lucie Neumann, feierte am Freitag Geburtstag: ihren 110. 1961 war die gebürtige Berlinerin mit ihrem Ehemann in die Landeshauptstadt gekommen. Ein Rückblick.

 Lucie Neumann (l.) gestern im Gerresheimer Seniorenzentrum des DRK. Ihre langjährige Nachbarin und beste Freundin Elke Gerber gratuliert.

Lucie Neumann (l.) gestern im Gerresheimer Seniorenzentrum des DRK. Ihre langjährige Nachbarin und beste Freundin Elke Gerber gratuliert.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Direkt vor Kaiser Wilhelm II. hat sie nie gestanden, aber an die Paraden zu seinen Ehren auf dem Tempelhofer Feld erinnert sich Lucie Neumann noch genau. Ihr Vater Stanislaus Naskret nahm sein einziges Kind jedes Mal mit dorthin. "Er war national eingestellt, stand hinter dem Kaiser, er war ein Oberschlesier, der anders als sein Bruder später für Deutschland optierte und leider starb, als ich acht Jahre war", sagt die gebürtige Berlinerin. Am 16. September 1906 kam sie in der Hauptstadt des Deutschen Reichs auf die Welt. Ein Sonntagskind. "Es war mittags um 12, auf dem Herd standen Sauerbraten und Klöße", sagt Neumann und lacht.

Handel mit Aktien als Lebenselexier

Bildung war ihrer aus dem rheinischen Bingerbrück stammenden Mutter Helene wichtig. Lucie Emma Susanne Naskret - so lautete damals ihr voller Name - besuchte in Berlin eine Handelsschule, machte im Anschluss eine kaufmännische Lehre. In dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit für ein Mädchen und eine Weichenstellung, die sie lebenslang prägen sollte. 15 Jahre arbeitete die kinderlos gebliebene Ehefrau beim Bau-Konzern Strabag, übernahm dort früh Verantwortung. Zu den Leidenschaften der Frau, die sich auch eine Karriere als Juristin oder Reiseleiterin hätte vorstellen können, zählt bis heute die Börse. Der Handel mit Aktien war für sie über Jahrzehnte ein Stück Lebenselixier.

 Lucie Neumann in einem maßgeschneiderten Kleid Ende der 1920er Jahre

Lucie Neumann in einem maßgeschneiderten Kleid Ende der 1920er Jahre

Foto: hjba

Ihre Freunde schätzen Neumann als aufgeschlossen, zupackend, selbstbewusst und optimistisch. Wohl die entscheidenden Voraussetzungen für ihr langes Leben, denn ein Rezept fürs 110-Jahre-Alt-Werden aus der Schublade "ein Glas Rotwein pro Tag oder eine Knoblauchpille zum Frühstück" hat die Frau, die keine Medikamente nimmt, nicht. "Einen Roman könnte ich schreiben", sagt sie zu einigen Gästen, die ihr am Freitag im DRK-Wohnheim am Lohbachweg gratulieren. Eigentlich eine Untertreibung. Denn über ein Leben, das vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, die Nazi-Diktatur, die vier Jahrzehnte währende deutsche Teilung bis hin zu Digitalisierung und Globalisierung reicht, müsste sie wohl mehrere Bücher schreiben.

Reisen zu Adenauers Urlaubsort am Comer See

An den Sparkanzler der Weimarer Republik, Heinrich Brüning, hat sie schlechte Erinnerungen ("die Menschen haben gelitten"), zu ihrem Bekanntenkreis in Berlin zählten Leute, die "zur Audienz" bei Hitler zugelassen waren und Anfang der 1930er Jahre darüber rätselten, ob der nur ein Polit-Schauspieler ist oder tatsächlich für Deutschland etwas bewegen wird. "Hinterher waren wir alle schlauer", sagt Neumann, für die nach eigener Einschätzung "Politik damals weitgehend ein böhmisches Dorf war", gut 80 Jahre später. Und doch ist gerade auch ihr Leben immer wieder mit dem Politischen in Berührung gekommen. Ihre Mutter arbeitete in Berlin als Erzieherin bei einer jüdischen Bankiersfamilie, die gerade noch rechtzeitig ins Ausland fliehen konnte. "Menschen stellten sich damals so sehr über andere, dass sie glaubten, mit ihnen machen zu können, was sie wollen. Diese ungeheuere Menschenverachtung erschüttert mich bis heute", sagt sie.

Nicht minder kritisch sieht die Schönebergerin das kommunistische Experiment gleich hinter der Berliner Stadtgrenze. Um zwei Grundstücke aus dem Familienerbe in Teltow kämpfte sie nach der Wende - mit Erfolg. Verwandte jenseits des Grenzstreifens versorgte sie in den 1950ern so gut es ging. "Was denen vorgesetzt wurde, hätten wir nicht mal den Pferden gegeben", erzählt sie. Mehr Sympathie hatte sie für die westdeutschen Staatenlenker. Zu Adenauers Urlaubsort Cadenabbia am Comer See reiste sie zwei Mal, von Weizsäcker fand sie "klasse" und Loki Schmidt, auch wenn die nur Kanzlergattin war.

Seit mehr als 50 Jahren Witwe

Ende der 1920er Jahre heiratete Neumann das erste Mal. "Er und ich hatten keinen Vater mehr, unsere Mütter wollten, dass wir zusammenkamen." Nach dem Krieg ging die Ehe auseinander. Dem Spruch "Jung gefreit, nie gereut" kann sie nichts abgewinnen. Jungen Menschen rät sie: "Lasst euch für diesen Schritt Zeit, prüft, an wen ihr euch für ein Leben bindet." Die große Liebe fand sie dennoch. Auf dem Tisch neben ihrem Bett steht ein Bild, das Wilhelm, ihren zweiten Mann, zeigt. Am oberen Rand des Rahmens klebt ein kleines rotes Herz. "Mit ihm kam ich 1961 nach Düsseldorf, wir hatten hier ein paar Verwandte", sagt Neumann. Nach nur drei Jahren am Rhein starb der Malermeister. Seit mehr als 50 Jahren ist Lucie Neumann Witwe.

Alleine fühlt sich die älteste Düsseldorferin, die zu den 110 Bürgern zählt, die 100 Jahre oder älter sind, aber nicht. Zu denen, die mehrmals in der Woche bei ihr sind, gehört Elke Gerber. "Frau Neumann sammelte damals für die evangelische Gemeinde in Gerresheim Geld, dadurch kannten sie viele", erinnert sich Gerber. Einige Male verbrachte Neumann den Heiligen Abend bei den Nachbarn, die zu Freunden wurden. Genau wie Wim Johnen, der mit seinen 86 Jahren noch bei der Messe arbeitet. "Vor ein paar Tagen rief sie mich an und ermahnte mich: Du arbeitest zu viel." Dass Alter nichts für Feiglinge ist, würde Neumann umgehend unterschreiben. Der Auszug aus ihrer Gerresheimer Wohnung kurz nach dem 107. Geburtstag schmerzt bis heute. "Ich konnte einfach nicht mehr laufen", erinnert sie sich. Doch Mutlosigkeit ist ihre Sache nicht. "Ich habe Glück gehabt", sagt sie.

(jj)
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