Düsseldorf Theater und Oper zieht es zu mythischen Inseln

Düsseldorf, Opernhaus · Düsseldorf erlebt zwei legendäre Frauen im Angesicht des Todes: Am Schauspielhaus inszeniert Mona Kraushaar Goethes "Iphigenie auf Tauris". Am Tag darauf bringen Regisseur Dietrich Hilsdorf und Dirigent Axel Kober im Opernhaus Richard Strauss' "Ariadne auf Naxos" heraus.

 Tanja Schleiff als Iphigenie in der Düsseldorfer Inszenierung.

Tanja Schleiff als Iphigenie in der Düsseldorfer Inszenierung.

Foto: Sebastian Hoppe

Sie ist in eine prekäre Lage geraten, Iphigenie, die Gestrandete auf Tauris. Der eigene Vater wollte sie auf dem Altar opfern, doch Göttin Diana hatte Mitleid, rettete sie, brachte sie in das fremde Königreich und machte sie zu ihrer Tempeldienerin. Nun steht Iphigenie am Rande eines grauen Plateaus, das an Stahlseilen über dem Bühnenabgrund hängt, und schaut in die Ferne - nach Griechenland, in die ersehnte Heimat. Ihre Bühne ist eine Insel, ein Käfig, ein schwankendes Brett. Iphigenie, die Exilantin, die Heimwehkranke, wird darauf ihre Balance finden müssen. Sie wird sich entscheiden müssen zwischen List und Wahrheit, zwischen Verrat und Vertrauen, zwischen Taktik und Treue. Ein Drahtseilakt.

Ein starkes, klares Bild stellt Regisseurin Mona Kraushaar ins Zentrum ihrer Inszenierung des Menschlichkeitsdramas "Iphigenie auf Tauris". Auf den schwankenden Brettern, die Iphigeniens Welt bedeuten, abgeschnitten von der Heimat, wird Goethes gütige Priesterin die Heiratsanträge des Königs von Tauris zurückweisen; sie wird ihren Bruder Orest wiedersehen, der als Gefangener ebenfalls in das fremde Königreich gerät, und sie wird genötigt werden, den Bruder nach alter Sitte des Gastlandes zu opfern. Iphigenie wird einen Ausweg finden, ohne König Thoas zu hintergehen, weil der ein edles Herz hat. Und weil Iphigenie es wagt, auf ein edles Herz zu vertrauen.

All das erzählt Kraushaar ohne viel Requisite. Sie gibt die Inszenierung ganz in die Hände der Schauspieler, die mit großer Inbrunst gegen das Akademische, Gedrechselte, das Kluge ihrer Rollen anspielen. Viele neue Mitglieder des Düsseldorfer Ensembles sind zu erleben. Tanja Schleiff gibt die Iphigenie als tapfere, forsche Streiterin, mehr gewitzte Verfechterin der Vernunft als anrührende Hohepriesterin des Humanismus. Andreas Grothgar ist ein smarter Thoas, der mit resignierendem Lächeln erkennt, wie Iphigenie ihn in die Mitleidsfalle lockt. Mit ergreifender Intensität spielt Jakob Schneider den wahnsinnigen Orest, der von Angst und Reue über die eigenen Freveltaten getrieben ist. Konstantin Bühler ist mit schöner Diktion der besonnene Freund Pylades an seiner Seite und Thiemo Schwarz des Königs Bote, der an seinem Hof auch kein Blut vergießen will. Das Ensemble bemüht sich, aus Goethes Schachspiel auch ein psychologisches Drama zu machen.

Es ist eine in ihrer Stringenz und Schlichtheit überzeugende Inszenierung, in der Text und Spiel zur Geltung kommen, kein Regieansatz die Aufmerksamkeit an sich reißt. Doch es ist auch eine Inszenierung ohne Risiko. Mona Kraushaar umgeht die Auseinandersetzung mit den großen Zumutungen dieses Dramas, die Goethe selbst schon erkannte, als er das eigene Stück "verteufelt human" nannte und die Inszenierung lieber Schiller überließ.

Gegen jedes Kalkül baut Iphigenie auf die zwingende Kraft der Vernunft, auf die Macht der Menschlichkeit. Auf dem schwankenden Brett setzt sie alles auf eine Seite - und rutscht doch nicht in den Abgrund, weil sie ihren Überzeugungen treu bleibt. Das ist die Utopie dieses Stücks - und die Zumutung. Beweist die Wirklichkeit doch in all den Konflikten dieser Welt, wie machtlos die Vernunft ist, wie Fanatismus, Geltungsdrang, strategische Interessen Menschen in den Krieg treiben. Und dann sterben Unschuldige in der Ukraine, fliehen Millionen aus Syrien, überrollt die Terrorgruppe IS den Irak, und es gibt kein edles Herz, das sich rühren ließe.

Doch daran mag sich Kraushaar nicht reiben. Sie stellt ihren Goethe unbeschadet in den Drahtseilkäfig und überlässt das Hinterfragen dem Publikum. Das reagierte dankbar auf die klare, textachtende Inszenierung dieses Klassikers und feierte die Neuzugänge des Ensembles. Der Aufsichtsrat des Theaters war ebenfalls zur Premiere gekommen, darunter Kulturministerin Ute Schäfer (SPD). Die wollte das als Zeichen der Solidarität verstanden wissen. "Die Träger des Schauspielhauses werden alles dafür tun, dass dieses Haus weiter auf einen guten Weg kommt", sagte sie bei der Premierenfeier. Was das in der Frage des künftigen Intendanten bedeutet, mochte sie noch nicht sagen. Heute tagt der Aufsichtsrat.

Wie so viele Opern von Richard Strauss hat auch "Ariadne auf Naxos" Patina angesetzt. Die Zeiten, da ein Publikum zu einigen Teilen aus Lateinlehrern mit gräzistischer Neigung bestand, sind vorbei; die antike Mythologie mit ihren heillosen Familien, kopulationsfreudigen Göttern, bizarren Flüchen, Opfern und Racheschwüren, aber auch mit ihren herrlichen Helden- und komischen Wundertaten zählt nicht mehr zur Allgemeinbildung. Was der Ariadnefaden ist, weiß heute keiner. Mancher dürfte ihn für ein synthetisches, reißfestes Produkt aus einer Kurzwarenhandlung halten, das in der Raumfahrt verwendet wird.

In der Düsseldorfer Rheinoper wird "Ariadne" nun mit großer Vitalität und Überzeugungskraft in die Gegenwart transferiert - und der Ariadnefaden rollt sich wieder mal von einem dicken roten Wollknäuel ab. Einst war er ihr Geschenk an ihren Geliebten Theseus, damit der im Labyrinth den Minotaurus erschlagen und am Faden entlang in die Welt zurückfinden konnte. Nach Theseus' schmählichem Abgang ersehnt die Betrübte den Tod, doch am Ende kommt kein Geringerer als Gott Bacchus und überführt sie in ein neues Glück.

Das ist die Oper, aber "Ariadne" ist mehr als dies, vielmehr eine raffinierte Theater-auf-dem-Theater-Situation mit einem Vorspiel, in dem ein reicher Herr die ungestörte Aufführung der von ihm bestellten Oper namens "Ariadne" durch die zeitgleiche Darbietung eines Buffo-Schauspiels über die wankelmütige Zerbinetta und ihre Liebhaber konterkariert. Diese Verschränkung von Tragödie und Commedia dell'arte ist natürlich starker Tobak ohne jede Relevanz, eine reine Spiegelfechterei, an deren Schlagkraft Textdichter Hugo von Hofmannsthal vermutlich selbst nicht geglaubt hat.

Man kann die "Ariadne" nur spielen, wenn man ihre unterschwellige Komik ausbeutet und ein lokales Energiefeld um sie entzündet. Das hat Regisseur Dietrich W. Hilsdorf köstlich getan. Die Aufführung spielt in einem auf die Bühne verlängerten und gespiegelten Düsseldorfer Opernhaus, auf deren Rückseite wir in Echtzeit uns selbst Platz nehmen sehen. Das Orchester sitzt bereits und probt noch ein bisschen, und zwar unter Leitung von Axel Kober, so dass man nicht weiß: Üben die noch oder spielen die schon? Ein Vorhang trennt das Orchester von der Spielfläche, auf ihn ist Arnold Böcklins legendäre "Toteninsel" projiziert. Weitere Kunstwerke, diesmal aus dem nahen Museum Kunstpalast, stehen auf der Bühne als Paravents Spalier (Ausstattung: Dieter Richter und Renate Schmitzer).

Beim Vorspiel mangelt es noch an szenischer Laune, an Witz. Der Gag mit der Probe, die in die Aufführung übergeht, entfacht eine etwas plumpe Betriebsamkeit. Nirgendwo ist einem das Stück so fern wie hier. Dann aber nimmt die Geschichte Fahrt auf, und das ist vor allem einigen Singdarstellern zu danken: etwa Stefan Heidemann als stimmlich zupackendem Musiklehrer oder Elena Sancho Perga als Zerbinetta. Sie mausert sich im Lauf des Abends zum Liebling: Sie schlägt Rad, fällt in den Spagat, kobolzt um alle Männer herum, kokettiert und blufft - und singt die Zerbinetta-Arie mit einer unfassbaren Geschmeidigkeit und Leichtigkeit, dass man sprachlos ist. Diese Zerbinetta ist Hilsdorfs Springteufelchen, das die heitere Mobilmachung der Inszenierung heftig unterstützt.

Alsbald wird die Verschränkung von heroischem und leichtem Sujet immer gewandter, die Düsseldorfer Symphoniker spielen unter Kober einen prachtvollen Strauss zwischen Hymnus und Glasperlenspiel, das Ensemble zeigt famose Geschlossenheit; Maria Kataeva als Komponist empfiehlt sich für mehr, die Terzette der Männer und Frauen sind eine Ohrenweide - und wenn Roberto Saccà als Bacchus sein vokales Eroberungsmetall zückt und auf die zaudernde Ariadne (etwas belegt: Karine Babajanyan) einsingt, kommt auch der amouröse Aspekt in Fahrt. Hübsch der Schluss: Das hohe Paar wird nicht entrückt, sondern stößt bei einem hoffentlich echten griechischen Retsina auf ewige Liebe an.

Großer Beifall. Das Publikum hätte die Oper vermutlich lieber in "Zerbinetta auf Naxos" umbenannt.

(RP)
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