Heimatreport "Keffen" im Ökotop Heerdt

Düsseldorf · In den Gärten gibt es keine Zäune, keinen Strom, kein fließend Wasser und keine Wochenendschrebergartenkultur.

 Matthes Wallenfang ist Ökotop-Pionier der ersten Stunde. Am 24. September feiern Bewohner und Vereinsmitglieder den 30. Geburtstag des kultiviert urigen Areals in Heerdt.

Matthes Wallenfang ist Ökotop-Pionier der ersten Stunde. Am 24. September feiern Bewohner und Vereinsmitglieder den 30. Geburtstag des kultiviert urigen Areals in Heerdt.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Der Mann war Mitte sechzig, trug ein weites Hemd über einer kurzen Hose und eine alte Baseballkappe. Er stellte sein Fahrrad, auf dessen Gepäckträger ein Korb voller krumpeliger Birnen befestigt war, neben einer Wiese ab, stemmte die Arme in die Hüften und schaute in die Natur. Es war ein strahlend sonniger Vormittag. Ich ging zu ihm hin und sagte: "Toll hier, oder?" Er nickte. Er kannte den Ort gut, im Unterschied zu mir. Ich war nie zuvor im "Ökotop" in Heerdt gewesen, in dieser alternativen ökologischen Siedlung im äußersten Westen Düsseldorfs, in der man auch wohnen kann, es gibt inzwischen 250 "Wohneinheiten". Der Mann erzählte von den 60 Kleingärten, sie heißen offiziell "Bio-Gärten", die man pachten könne, und dass viele Pächter allmählich zu alt seien, um in der Natur zu arbeiten. Mit jungen Leuten wiederum gehe es nicht, lästerte er, "die Jugend macht immer alles kaputt". Ehe wir uns verabschiedeten, legte mir der Mann einen Besuch im "Grauen Haus" nahe, so heißt die Begegnungsstätte im Ökotop. "Dort wird gekefft", sagte er. Ich: "Gekefft?!" Er: "Ja, die keffen. Die unterhalten sich." Ich: "Keffen - wo sagt man das?" Er: "In Rumänien. Ich bin Rumäne. Wenn man immerzu redet, raucht und säuft, hat man einen Keff gemacht."

Ich bin ein großer Fan des Philosophen Odo Marquard, der gesagt hat, es komme nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern darauf, sie zu verschonen. Hinzuzufügen wäre, dass sich die Welt, indem man sie verschont, verändert. Sie sieht dann wie das Ökotop aus. Ich spazierte durch die Grünanlage, genoss den Duft der reifen Äpfel, staunte über die Sonnenuhr und die kleinen Brunnen mit gusseiserner, historisch aussehender Pumpe, freute mich an den bunten Holzhütten, in denen die Gartenpächter, die hier Gärtner heißen, ihr Arbeitsgerät abstellen, las die Schilder, die in der Art eines Lehrpfads im Boden steckten, und lernte vieles über Totholzhecken und Sonnenfallen, Reflexionsteiche und Pflanzenkläranlagen. Auf einem der Schilder stand, dass die Natur "behutsam begleitet" werde - eine interessante Wortwahl. Als handele es sich um eine ehemalige Schwerverbrecherin, die vorsichtig zu resozialisieren sei. Wenn sich meine Schwiegermutter das nächste Mal beklagt, dass ich ihren Rasen lange nicht gemäht habe, sage ich, dass ich beschlossen habe, ihn behutsam zu begleiten.

Das 16 Hektar umfassende Ökotop, in dem es keinen Autoverkehr gibt, dafür aber einen Vogelbeobachtungsstand und Bienenstöcke, ist eine Idee von Privatleuten, und es sind Privatleute, die sich darum kümmern. Schon paradox, dachte ich, wie intensiv man sich heutzutage kümmern muss, damit die Natur so aussieht, als würde sich niemand um sie kümmern. Es gibt sogar einen "Urwald" im Ökotop, der, wie ein Schild informiert, "ganz der Natur überlassen" ist. Und seit dem 1. August findet man im Ökotop außerdem eine Kita. Wie ich die kleinen Kinder kreischen hörte und herumtoben sah, umgeben von Streuobstwiesen, Pappeln und vereinzelten Zypressen, hatte ich auf einmal keine Sorge mehr, was die Zukunft unseres Planeten angeht. Eine derartige Idylle kannte ich bisher nur aus den Heimatfilmen, die meine Mutter immer so gerne geguckt hat.

"Bei uns im Garten zu frühstücken ist wie ein kleiner Urlaub", sagte mir eine Frau von Mitte fünfzig, die in der Ökotop-Siedlung wohnt. Sie lief mit ihrem großen Hund zwischen den mit Holzlatten verkleideten Häusern in Richtung Grünanlage. Sie verbot mir erst barsch, zu fotografieren - "das ist alles privat hier!" -, beruhigte sich dann aber und gab mir sogar die Hand, nachdem ich erklärt hatte, für die Rheinische Post unterwegs zu sein. Kurz darauf versicherte mir Matthes Wallenfang, ein Ökotop-Pionier der ersten Stunde, die Wohnungen in der Siedlung seien unglaublich begehrt.

Wallenfang ist seit 1986 dabei, seit das Ökotop - ehemals "Friedhofserweiterungsgebiet" - ein eingetragener Verein ist. Heute arbeitet er im Vereinsbüro gegenüber vom Grauen Haus (dass dort gekefft werde, konnte er nicht bestätigen; nur dass freitags um 19.30 Uhr "Dämmerschoppen" sei). Ich habe selten ein so schönes Büro gesehen: ein von Bäumen und Büschen umstandenes Holzhäuschen mit einem Boden aus Backstein, der auf Holz verlegt ist (perfekter Wärmespeicher). Ein Hingucker ist auch der Minitresen aus Lehmstein. Der Eingangsbereich ist ein Gewächshaus, wo unter anderem alte Sorten von Tomaten gedeihen. Wallenfang reichte mir drei. Sie waren köstlich.

Anschließend begleitete er mich behutsam durch die Anlage. Er berichtete von den Gärtnern, darunter ein kasachischer Imker, eine griechische Großfamilie sowie Japaner und Russen. "Das ist gelebte Integration." Er erzählte, dass es in der Anlage keine Zäune, keinen Strom, kein fließend Wasser und keine Wochenendschrebergartenkultur gebe, und dass sie im vergangenen Jahr 400 Kilo Äpfel geerntet und zum Teil einer Brennerei zugeführt hätten. Einmal hätten sie 1100 Kilogramm Quitten geerntet und 58 Liter Brand destilliert. Meinen interessierten Blick quittierte er mit der Äußerung, die Spirituosen lagerten im Privatkeller eines Gärtners, und der sei leider gerade nicht zu Hause. Am 24. September feiert das Ökotop seinen 30. Geburtstag und lädt zu einem "musikalischen, lyrischen Spaziergang" ein. Ich denke, das wäre ein guter Anlass, um die Brände einer breiteren Öffentlichkeit anzubieten. In Verbindung mit den lyrischen Schwärmereien könnte das Fest das Zeug haben, der Keff des Jahres in Heerdt zu werden.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort